Die Bischöfin von Rom
brauchst du möglichst viel Schlaf, um dich zu erholen. Deshalb werde ich dir abermals von dem Trank geben, den ich für dich bereitete, nachdem man mich zu dir brachte …«
Damit erhob sie sich, ging zur Herdstelle und kam mit einem dampfenden Becher wieder. Durstig leerte die Kranke das Gefäß bis auf den letzten Tropfen, gleich darauf entspannten sich ihre Glieder und ihr Geist auf beinahe wundersame Weise. Angenehme Müdigkeit hüllte sie ein. Ehe sie entschlummerte, nahm sie noch wahr, wie die heilkundige Frau ihr zärtlich eine verschwitzte Locke aus der Stirn strich.
Am nächsten Tag – dem sechsten, seit Haimo sie in der Wildnis gefunden hatte – war Branwyn beinahe fieberfrei, und auch ihre Rippen, das Schlüsselbein und die Schulter schmerzten an diesem Morgen längst nicht mehr so stark wie zuvor. Als Samira und Hulda sie wuschen, stellte sie fest, daß die Verbände gewechselt worden waren und nach Arnika sowie anderen Wundkräutern dufteten; dankbar fühlte sie sich dadurch an die Fürsorge erinnert, die den Verletzten in der Heilstätte von Avalon zuteil geworden war.
Nachdem sie versorgt war und die Alte das Haus wieder verlassen hatte, um sich nun um den Jäger zu kümmern, der vorübergehend bei ihr eingezogen war, fand Branwyn Gelegenheit, die geheimnisvolle Fremde näher kennenzulernen.
»Du hast mir das Leben gerettet, und ich stehe tief in deiner Schuld«, eröffnete sie das Gespräch. »Wie soll ich dir das jemals vergelten?«
»Das mußt du nicht, denn ich weiß, du hättest im umgekehrten Fall dasselbe für mich getan«, antwortete Samira lächelnd.
Wortlos ergriff Branwyn ihre Hand, dann fragte sie: »Aber wie kam es eigentlich, daß du so plötzlich hier auftauchtest? Du stammst doch nicht aus dieser Ansiedlung, oder?«
»Ich bin sicher, das war eine Fügung der Göttin«, erwiderte Samira mit ernster Stimme. »Eigentlich wollte ich das Gebirge nämlich schon viel früher überqueren, um nach Italien heimzukehren. Doch mein Besuch bei Verwandten nördlich von Geneva dehnte sich länger aus, als ich ursprünglich geplant hatte, weshalb ich erst jetzt in diese Gegend kam. Gestern vormittag langte ich hier im Dorf an, erfuhr von deinem bedauernswerten Schicksal und konnte dank der Vorsehung der Gottheit gerade noch rechtzeitig eingreifen.«
»Ceridwen half!« stimmte Branwyn zu. »Aber nicht weniger zählt deine ärztliche Leistung! Du hattest die nötigen Heilmittel bei dir, die du außerdem meisterlich angewandt haben mußt, denn sonst hätte ich mich niemals so schnell erholt.« Sie besann sich, dann setzte sie hinzu: »In Britannien, von wo ich stamme, kann derartiges Wissen einzig in den Druidenschulen erworben werden, und ich vermute daher, du hast in deinem Heimatland eine ähnlich hervorragende Ausbildung genossen?«
»Auch in Italien wird die alte Weisheit bewahrt«, entgegnete Samira. »Allerdings nicht in Hainen wie bei euch, vielmehr in Grotten …«
»In Höhlen?« unterbrach Branwyn erstaunt.
»Du hast richtig gehört«, nickte die geheimnisvolle Frau. »Dort wo der Erdmutterschoß uns natürliche Heimstätten bietet, begegnen wir der Göttin Hekate und nehmen an, was sie uns schenken will. Wir bewahren damit eine jahrtausendealte Tradition, die ihren Anfang in Kleinasien hatte, wo die Große Mutter in den Grottenheiligtümern noch unter ihrem ursprünglichen Namen Kybele verehrt wurde. Doch wie immer wir sie bezeichnen, sie ist stets die dreigestaltige Eine, welche jedes Dasein entstehen und reifen läßt und es über seinen Tod in die Wiedergeburt umwandelt. Aus der Erkenntnis ihres Wesens aber erwächst uns Höhlenpriesterinnen, sofern wir uns mit allen unseren Kräften darum bemühen, hohes Wissen.«
»Erzähle mir mehr von euch«, bat Branwyn. »Ich nehme an, ihr seid über die Heilkunde hinaus auch in anderen Bereichen tätig, nicht wahr?«
»So ist es«, bestätigte Samira. »Wir Sibyllen, wie man uns nennt, waren früher vor allem als Prophetinnen bekannt. Die ersten von uns, die vor sehr langer Zeit über Griechenland nach Süditalien kamen, ließen sich in einer Grotte bei der Stadt Cumae nieder. Diese Orakelstätte wurde bald so berühmt, daß die Menschen in Scharen dorthin pilgerten; schließlich bewog der römische Senat die Seherinnen dazu, in eine dazu geeignete Höhle am Tiber überzusiedeln. Dies geschah vor etwa fünfhundert Jahren; von da an waren die Sibyllen wichtige Beraterinnen der Senatoren und versuchten, deren politisches Handeln zum
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