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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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Wohl des Volkes mit dem Willen der Göttin in Einklang zu bringen.«
    Samira unterbrach sich und blickte eine Weile sinnend vor sich hin, ehe sie fortfuhr: »Nach dem Aufstieg Cäsars allerdings, als die Republik Rom zum Kaiserreich wurde und die Imperatoren den Rat der weisen Frauen zunehmend mißachteten, zogen die Vertrauten der Hekate sich allmählich wieder aus dem öffentlichen Leben zurück. Heutzutage hält sich keine Sibylle mehr in Rom auf, denn das christliche Patriarchat ist dazu übergegangen, uns zu verfolgen. Anderswo in Italien freilich, wohin die Macht der Kirche nicht reicht, bewohnen wir noch immer unsere Grotten und bemühen uns dort nach wie vor, im Geiste der Großen Göttin zu wirken. Wie früher dienen wir denen, die uns aufsuchen, als Prophetinnen; zudem üben wir die Heilkunst aus, trachten danach, Streitigkeiten zu schlichten, und sorgen allgemein dafür, daß die alte Weisheit gehütet und an geeignete Schülerinnen weitergegeben wird.«
    Nachdem Samira geendet hatte, griff Branwyn erneut nach ihrer Hand und sagte leise: »In Britannien war ich mit Frauen befreundet, die dir sehr ähnlich waren. Fast habe ich das Gefühl, als wäre ich ihnen in dir wiederbegegnet …«
    »Auch ich empfand vom ersten Augenblick an große Zuneigung zu dir, und deshalb würde ich nun gerne mehr über dich erfahren«, entgegnete die Sibylle. »Was bewog dich dazu, deine Heimat zu verlassen, um ganz allein auf dich gestellt eine solch weite und gefährliche Reise zu unternehmen?«
    »Es geschah, weil ich in Rom eine Aufgabe zu erfüllen habe«, erwiderte Branwyn. Dann berichtete sie Samira, was sie während der vergangenen Jahre erlebt hatte.
    Gespannt lauschte die Sibylle ihren Worten, gelegentlich stellte sie eine Zwischenfrage; zuletzt, es war mittlerweile beinahe Mittag geworden, erklärte sie: »Nie hörte ich eine Geschichte, die mich mehr erschütterte. Wieder und wieder prüfte dich die Göttin, um dich für das zu stärken, was noch vor dir liegt: deine größte und schwerste Bewährungsprobe. Auch der Überfall auf den Kaufmannszug und dein Unfall hatten ohne Zweifel ihren tieferen Sinn, denn du lerntest durch das Verhalten jenes Paulinus Lupus die dunkle Seite des Christentums hautnah kennen und kannst dich nun besser gegen das wappnen, was dich am Tiber erwartet. Dort wirst du gegen viele Menschen zu kämpfen haben, welche Kreuze auf der Brust tragen und gleichzeitig die Lehre des Gekreuzigten verraten – aber ebenso wirst du anderen begegnen, die wahrhaft in der Nachfolge Jesu stehen und denen du vertrauen darfst. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich dir sagen, wo du diese aufrechten Christen finden kannst; zunächst freilich zählt vor allem eines: Daß du so schnell wie möglich gesund wirst und wir das Hochgebirge noch vor Einbruch des Winters hinter uns bringen.«
    »Heißt das, du willst bei mir bleiben, bis ich wieder reisefähig bin?« kam es ungläubig von der Kranken.
    Samira antwortete nicht mit Worten, sondern mit einer zärtlichen Umarmung, und so besiegelten die beiden Frauen den Beginn ihrer Freundschaft.
    ***
    Im Verlauf der folgenden Wochen kümmerte die Sibylle sich aufopfernd um Branwyn. Deren Genesung schritt nun rasch voran; wenn Haimo oder die alte Hulda, die den Jäger weiterhin bei sich beherbergte, vorbeikamen, staunten sie jedes Mal darüber. Trotzdem war noch längst nicht an eine Fortsetzung der Reise zu denken. Ein voller Monat verstrich, bis die Verletzte sich wieder schmerzfrei bewegen konnte, aber sie fühlte sich nach wie vor außerstande, mit ihrem Gepäck auf dem Rücken größere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Andererseits rückte jetzt, Ende Oktober, der Wintereinbruch immer näher, und Branwyn begann sich bereits ernsthafte Sorgen zu machen – doch schließlich fand Samira eine Lösung.
    Von einem Einödbauern, auf den Haimo sie hingewiesen hatte und der einen halben Tagesmarsch vom Dorf entfernt lebte, erstand sie zwei kräftige Esel sowie das nötige Sattelzeug und brachte die Tiere zur Ansiedlung. »Mit Hilfe dieser Vierbeiner werden wir es schaffen«, erläuterte sie ihrer Freundin; in der Tat stellte sich bei einem probeweisen Ausritt am nächsten Morgen heraus, daß Branwyn sich problemlos auf dem Rücken ihres Grautieres zu halten vermochte und die leichten Erschütterungen ihr keine Pein bereiteten. Daraufhin beschlossen die beiden Frauen, nur noch einen Tag zu bleiben, um Hulda, dem Jäger und den übrigen Dorfbewohnern, die ihnen Gutes getan

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