Die Bischöfin von Rom
vorne an den Altar zu begeben. Dort kniete sie nieder und sprach, einer instinktiven Regung folgend, das erste Gebet, das sie einst auf der Ynys Vytrin von Vater Jacwb gelernt hatte: Jesu Seligpreisung der Armen, Schwachen und Unterdrückten, die nach dem Willen Gottes dereinst die Erde erben sollten. Und ganz wie der keltische Priester es oft getan hatte, wiederholte sie zuletzt noch einmal jenen Satz aus der Bergpredigt, der sie immer am tiefsten berührt hatte: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit finden!«
Die Gläubigen fielen ein; nachdem die einfachen und doch so weisen Worte verklungen waren, herrschte eine Weile nachdenkliche Stille in dem schlichten Gotteshaus. Branwyn ließ das andächtige Schweigen auf sich wirken und bemühte sich, ihr Empfinden mit dem der Menschen von Trans Tiberim in Einklang zu bringen. Dann erhob sie sich langsam, lächelte und sagte: »Wir alle spüren, welch tiefe Geborgenheit dieser Ausspruch des jüdischen Lehrers uns schenkt. Es ist das Behütetsein, das aus dem Miteinander erwächst, und was Jesus verkündete, deckt sich mit dem druidischen Wissen meiner fernen Heimat. Danach steht niemand allein, sondern das Leben jedes Einzelnen ist eng mit dem Dasein seiner Mitmenschen verflochten. Dies aber drückte neuerlich der Galiläer sehr treffend aus, als er davon sprach, daß wir unseren Nächsten ebenso wie uns selbst lieben sollen.«
Sie machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr: »Nächstenliebe jedoch darf sich nicht auf das reine Gefühl beschränken, denn wir Menschen haben darüber hinaus konkrete Bedürfnisse. Deshalb muß wahre Barmherzigkeit neben geistiger und seelischer Fürsorge stets auch die Sorge um die körperliche Wohlfahrt unseres Mitmenschen beinhalten. Es ist inhuman und widerspricht dem Geist des christlichen Glaubens sowie dem göttlichen Willen, wenn jemand Hunger leidet oder kein Dach über dem Kopf hat. Genausowenig dürfen wir es dulden, daß Kranke, Alte und Schwache hilflos ihrem Schicksal überlassen werden oder Kinder verkümmern, weil sie ihre Eltern verloren haben.«
Erneut besann sie sich einen Augenblick, bevor sie weitersprach: »Ihr hier in der Gemeinde Sancta Maria habt dies schon vor Jahren begriffen und aus diesem Grund neben der Schule auch das Waisenhaus und das Hospital eingerichtet. Auf diese Weise habt ihr die Lehre der Bergpredigt in eurem täglichen Leben verwirklicht und euren Stadtteil damit zum Vorbild für manch anderes Viertel in Rom gemacht. Im Kirchensprengel von Sancta Praxedis zum Beispiel, so erfuhr ich kürzlich bei einem Besuch dort, soll noch heuer ebenfalls ein Gebäude für verwaiste Jugendliche eingerichtet werden. Sobald Calpurnia wieder gesund ist, wird sich eine Abordnung vom Esquilin bei uns einfinden, um sich beraten zu lassen, und ich denke, einen wertvolleren Lohn für das, was ihr hier geleistet habt, kann es nicht geben.«
Erfreut nahmen die Zuhörer diese Nachricht zur Kenntnis; unmittelbar darauf sahen die Gläubigen in den vordersten Bankreihen, wie ein schelmischer Ausdruck in Branwyns Augen trat, und einen Lidschlag später kam es von der jungen Frau am Altar: »Trotzdem sollten wir uns keinesfalls auf unseren wohlverdienten Lorbeeren ausruhen, auch wenn dies, wie wir alle nur zu gut wissen, in der menschlichen Natur liegt. Wir geraten dadurch nämlich unter anderem in Gefahr, überheblich zu werden, wie ihr an mir erkennen könnt, die ich hier weise Reden halte, obwohl ich doch erst vor eineinhalb Wochen getauft wurde. Weil ich jedoch einsichtig bin, will ich jetzt schließen – ich bitte euch bloß noch, mir einen kleinen Wunsch zu erfüllen …«
Die Gemeindemitglieder, die nie zuvor während einer Andacht solch launige Worte vernommen hatten, reagierten mit Heiterkeit auf Branwyns Ausführungen; nachdem das wohlwollende Lachen sich gelegt hatte, forderte die Gattin eines Gärtnereibesitzers sie schmunzelnd auf: »Sag schon, was du dir von uns wünschst!«
»Nun ja, ich würde mich über Vorschläge freuen, wie wir das Miteinander in Sancta Maria noch verbessern könnten«, erwiderte Branwyn. »Es müßten ja fürs erste keine großartigen Dinge sein, denn niemand verlangt von uns, daß wir uns beim Sammeln weiterer Lorbeeren überstrapazieren. – Aber das Hospital brauchte dringend ein Dutzend neuer Bettlaken, und im Waisenhaus wachsen die Kinder gerade im Frühling immer sehr schnell aus ihren Gewändern heraus …«
»Dann laß uns doch eine Kleidersammlung
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