Die Bischöfin von Rom
Gläubige konnten nicht zur Beerdigung kommen und sind daher auch nicht über diese Zusammenkunft informiert. Deshalb schlage ich vor, am kommenden Sonntag, es sind ja nur noch drei Tage bis dahin, eine öffentliche Versammlung sämtlicher Familien von Trans Tiberim einzuberufen, bei der dann weiteren Bewerbern eine Chance eingeräumt wird.«
»Deine Worte ehren dich! Aber es ist nicht nötig, so vorzugehen!« Bei dem Sprecher handelte es sich um das älteste Mitglied der Delegation, die Branwyn gebeten hatte, die Zusammenkunft zu leiten; nun setzte der grauhaarige Mann, der einen Steinmetzbetrieb besaß, hinzu: »Denn die Menschen in unserem Stadtteil wünschen einhellig dich als Kandidatin. Wir alle hier wissen es definitiv, weil gleich nach Calpurnias Tod jede Familie in Trans Tiberim befragt wurde. Diejenigen, die nicht auf dem Friedhof anwesend waren, denken genauso wie wir, die wir am Grab der toten Presbyterin standen, und wir wurden von unseren Nachbarn ermächtigt, in ihrem Namen abzustimmen. Aus diesem Grund sind wir durchaus berechtigt, die Wahl gleich hier und jetzt durchzuführen, und wir bitten dich, das zu akzeptieren!«
Ehe Branwyn etwas zu erwidern vermochte, stand Silvia auf und erklärte: »Was wiederum mögliche Bewerber aus anderen Stadtteilen angeht, so habe ich mit den wenigen, die dafür in Frage kämen, gesprochen und erfahren, daß keiner für das vakante Amt kandidieren will. Deshalb trete auch ich dafür ein, die Nachfolgerin Calpurnias sofort zu wählen, ehe das Patriarchat unter Umständen doch noch irgendwelche Schwierigkeiten macht.«
»Das ist richtig!« – »Wir wollen eine sofortige Entscheidung!« – »Laßt uns keine Zeit mehr verlieren!« scholl es durch das Kirchenschiff.
Die junge Frau am Altar schien einen Augenblick mit sich zu ringen, dann neigte sie das Haupt und deutete damit an, sich dem Willen der Gemeinde fügen zu wollen.
Gleich darauf war Silvia bei ihr und wandte sich an die Versammelten: »Wer dafür ist, daß unsere Schwester Theodora das Amt der Presbyterin von Sancta Maria übernimmt, möge sich von seinem Platz erheben!«
Im nächsten Moment lief es gleich einer Welle durch das Gotteshaus; ohne eine einzige Ausnahme kamen die Gläubigen der Aufforderung Silvias nach. Noch stärker als zuvor spürte Branwyn die rückhaltlose Zustimmung, die ihr entgegenschlug, und empfand ihrerseits das beglückende Verlangen, diesen Menschen mit ganzer Kraft zu dienen. Es war, als ströme etwas vom unsterblichen Wesen der Verstorbenen in ihre Seele; sie hatte das Gefühl, als berühre der Geist Calpurnias aus der Anderswelt heraus ihr Innerstes – und mit ausgebreiteten Armen nahm sie sowohl diese aus dem Jenseits kommende liebevolle Zuwendung als auch das Geschenk, das die Lebenden ihr durch ihr tiefes Vertrauen entgegenbrachten, in sich auf.
Wie entrückt verharrte sie; in der Kirche herrschte jetzt beinahe atemlose Stille, bis die junge Frau am Altar endlich mit leiser Stimme, die dennoch in den letzten Winkel des Raumes drang, sagte: »Ich versprach Calpurnia, ihr Lebenswerk weiterzuführen, und dieses Versprechen erneuere ich nunmehr vor euch. Nächstenliebe, die ohne Ansehen der Person oder des Glaubens allen ihren Mitmenschen galt, war stets die Richtschnur im Wirken der Toten. Auf diese Weise befand sie sich im Einklang mit der Lehre Jesu und tat unendlich viel Gutes. Wir werden uns immer an ihre Werke der Barmherzigkeit erinnern; diese Erinnerung aber ist das Erbe, das sie uns hinterließ. Wir wollen es heute aus ganzem Herzen annehmen, und das bedeutet: ebenso wie sie für all diejenigen da sein, die unsere Hilfe brauchen. Laßt uns diesen Weg in freundschaftlichem Miteinander gehen; dies ist es, was ich mir in der Stunde meiner Priesterwahl wünsche.«
Nachdem Branwyn geendet hatte, zog Silvia die neue Presbyterin von Sancta Maria spontan an ihre Brust und küßte sie. Unmittelbar darauf waren Angela, Camilla und Gaius bei ihr, um sie auf dieselbe Art zu beglückwünschen; gleichzeitig drängten Dutzende weiterer Frauen, Männer und Kinder heran. Für jeden hatte Branwyn ein Lächeln und ein freundliches Wort; zuletzt verschaffte sie sich noch einmal Gehör und regte an, ein gemeinsames Liebesmahl zu feiern.
Man holte Holzplatten und Böcke aus der Sakristei und errichtete Tische zwischen den rasch umgestellten Sitzbänken. Während dies geschah, eilten einige wohlhabendere Gemeindemitglieder, die in der Nähe wohnten, zu ihren Häusern und kehrten mit
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