Die Bischöfin von Rom
Angst! Es sind nur die Maultiere, die ich dort drüben zurückließ. Mit ihrer Hilfe werden wir bei Sonnenaufgang schon viele Meilen von Rom entfernt sein.«
Wenig später saßen die beiden Frauen in den Sätteln; nach ungefähr hundert Metern tauchte vor den Mulis die gepflasterte Straße auf, und in schnellem Trab ritten Samira und Branwyn davon. Sie folgten zunächst der Via Tusculana, bogen jedoch bald nach Süden ab, kreuzten die in einiger Entfernung parallel laufende Via Appia und jagten bis zur Dämmerung querfeldein. Im einsamen Hügelland zwischen den kleinen Städten Lanuvium und Ardea fanden sie, kurz bevor die Sonne über die Bergketten im Osten kletterte, einen verlassenen Schafstall und verbargen sich unter seinem Dach.
Im Verlauf des scharfen Ritts hatten die Frauen kaum Gelegenheit gefunden, miteinander zu sprechen; jetzt erst erfuhr Branwyn, wie es Samira gelungen war, sie zu retten.
»Es geschah in der Nacht vom zweiten auf den dritten September, also vor knapp zwei Wochen«, begann die Sibylle. »Ich schlief unruhig, plötzlich schreckte ich hoch; im selben Augenblick stürmte die Vision auf mich ein. Die Göttin sandte mir die Bilder; ich erblickte dich in einer Gasse des nächtlichen Rom, erkannte die Silhouette des Circus Maximus und wurde Zeugin des Überfalls auf dich. Ich wußte mit unverbrüchlicher Sicherheit, daß es Kreaturen des Patriarchats waren, die dich verschleppten: in einen Innenhof des Lateranpalastes und von dort in die Stollen unter seinen Fundamenten. Ich sah, wie man dich ankettete, und empfand deine Verzweiflung ebenso intensiv, als wäre es meine eigene – aber dann zeigte Hekate mir den Ausweg auf …«
»Die Tropfsteinhöhle!« stieß Branwyn hervor.
»Richtig!« bestätigte Samira. »Die Grotte, durch die wir entkamen, war einst Teil eines ausgedehnten unterirdischen Heiligtums der römischen Sibyllen. Jahrhundertelang wurden in ihr ehrwürdige Rituale begangen, bis das Christentum seinen Siegeszug antrat und sich die Priesterinnen der Göttin, weil das Patriarchat sie zunehmend verfolgte, aus der Tiberstadt zurückzogen. Bereits einige Zeit zuvor war der Lateranpalast als Sitz einer Adelsfamilie über dem verborgenen Höhlen- und Gangsystem erbaut worden; diejenigen, die ihn errichteten, wußten nichts mehr von den uralten Geheimnissen. Sie und ihre Erben nutzten lediglich einige leicht von oben zugängliche Kavernen als Keller; später, als der Palast ins Eigentum des Patriarchats überging, blieb dies so – ehe Liberius oder vielleicht schon der eine oder andere seiner Vorgänger darauf verfielen, diese Kellerhöhlen in Kerker umzuwandeln. Aber ebensowenig wie diejenigen, die den Lateranpalast vor ihnen bewohnt hatten, ahnten sie, daß sich tiefer in der Erde nach wie vor die eigentlichen Sakralgrotten sowie die sie verbindenden Klüfte und Gänge befanden. Die Sibyllen hingegen, die nun an einsamen Plätzen außerhalb Roms lebten, hüteten dieses Wissen, gaben es von einer Generation zur nächsten weiter – und so handelte auch die Hekate-Priesterin, die meine Lehrerin war.«
»Doch du hattest die Örtlichkeiten nie mit eigenen Augen gesehen?« erkundigte sich Branwyn.
»Ich erblickte sie am Ende meiner Vision«, erwiderte Samira. »Daher wußte ich, daß die Göttin mich leiten würde, und brach noch in derselben Nacht auf.«
Branwyn griff nach der Hand ihrer Freundin; eine Weile schwiegen die beiden Frauen, dann fuhr die Sibylle fort: »Am folgenden Tag besorgte ich mir in einem Dorf am Bolsena-See die beiden Maultiere, traf gestern vormittag in Rom ein und suchte sofort das Atriumhaus in Trans Tiberim auf. Dort war man untröstlich wegen deines Verschwindens. Camilla, Gaius und Angela schworen, du seist einem Anschlag des Patriarchats zum Opfer gefallen, hatten aber keinerlei Beweise dafür. Ich weihte sie ein und versprach ihnen, dich umgehend zu befreien. Alle drei und dazu die Presbyterin Silvia, die ich ebenfalls ins Vertrauen zog, wollten sich mir unbedingt anschließen, als ich die Stadt nach Einbruch der Dunkelheit wieder verließ. Doch um ihrer und meiner Sicherheit willen – denn vermutlich beschattet man sie – mußte ich ihnen das abschlagen …«
»Sie haben gewiß Todesängste ausgestanden und quälen sich bestimmt noch immer entsetzlich!« unterbrach Branwyn.
»Sobald wir es gefahrlos tun können, werden wir ihnen eine Nachricht senden!« beruhigte Samira sie. »Vorerst freilich ist es am besten für sie, nicht allzuviel zu
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