Die Bischöfin von Rom
wissen. Denn wenn unsere Feinde deine Flucht erst bemerkt haben, werden sie diejenigen, die dir am nächsten stehen, um so argwöhnischer belauern und sie womöglich auch verhören.«
»Ich verstehe«, nickte Branwyn. »Du hast ohne Zweifel richtig gehandelt …«
Sie schien angestrengt nachzusinnen, dann fragte sie plötzlich in gepreßtem Tonfall: »Und du hältst es für ausgeschlossen, daß ich nach Rom zurückkehre, um den Kampf gegen das Patriarchat noch einmal aufzunehmen?«
Die Sibylle erschrak. »Das wäre dein sicherer Tod! Liberius, der mit dem neuen Kaiser paktiert, übt jetzt die Herrschaft in der Stadt aus; er würde nicht zögern, dich hinrichten zu lassen!«
Branwyn erinnerte sich an die haßerfüllten Worte des Notarius; unmißverständlich hatte Acacius ihr einen Ketzerprozeß angedroht, falls ihr die Flucht aus dem Kerker gelingen und sie es wagen sollte, sich an die römische Öffentlichkeit zu wenden.
»Wenn es sich so verhält, bin ich mit meiner Mission gescheitert!« sagte sie mit erstickter Stimme. »Seit ich vor sechseinhalb Jahren in die Tiberstadt kam, versuchte ich mit allen Kräften, den Auftrag, den ich in Avalon erhielt, zu erfüllen. Mit meinem ganzen Sein bemühte ich mich, dem Roten Drachen zum Sieg über den Weißen Drachen zu verhelfen – aber nun, am Ende, bleibt mir nichts als meine Niederlage …«
»Nein!« widersprach Samira. »Du hast keineswegs versagt! Denn sechseinhalb Jahre lang führtest du die Menschen in Rom auf den Pfad des Miteinander! Du schenktest ihnen Liebe, Fürsorge und Barmherzigkeit und brachtest sie dadurch sowohl mit dem Willen der Göttin als auch der Lehre Jesu – dem wahren Geist des Christentums – in Einklang! Diesen Weg gingst du unbeirrt, und genau dieser Weg war dein Ziel! Du hattest dieses Ziel durch deine guten Taten längst erreicht, und weil du das geschafft hast, blieb dem Patriarchat zuletzt nichts anderes übrig, als rohe Gewalt gegen dich anzuwenden – und damit sein eigenes Versagen einzugestehen!«
Die Sibylle ließ ihrer Freundin Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, dann fuhr sie fort: »Bereits in Avalon wies die Göttin dich auf das Los hin, das dich erwarten würde. Folgende Sätze vernahmst du damals aus ihrem Mund: Fürchte dich nicht, auch wenn dein Schicksal einem zweischneidigen Schwert gleicht. Im Licht schimmert die eine Seite der Klinge, Schatten verdunkeln die andere; sofern du nach der Waffe greifst, mußt du beides annehmen! Wenn du dich also zum Kampf entschließt, wirst du Helligkeit in die Welt tragen und aufgrund dessen sehr hoch steigen; gleichzeitig aber wird Finsternis dich bedrängen und dich auf dem Gipfelpunkt deines Pfades in großes Leid stürzen, so daß scheinbar alles niederbricht, was du aufbautest …«
»So daß scheinbar alles niederbricht …« wiederholte Branwyn leise. »Scheinbar nur, nicht tatsächlich …«
»Nicht wirklich!« bekräftigte Samira; als sie weitersprach, leuchtete visionäre Gewißheit aus ihren Augen. »Denn das, was du bewirktest, wird in den Herzen der Menschen, die dich kannten und ein Vorbild in dir sahen, lebendig bleiben! Auch wenn jetzt das Patriarchat triumphiert, wird die Episcopa Theodora auf immer unvergessen sein! Je schrecklicheres Unheil die Tyrannei skrupelloser und machtbesessener Männer anrichtet, desto sehnsüchtiger werden die Gläubigen an jene Frau denken, die einst zur römischen Bischöfin gewählt wurde! Während der vielen dunklen Jahrhunderte, welche nun über Rom, Italien und das Abendland hereinbrechen, wird die Erinnerung an dich bewahrt bleiben! Im verborgenen wird sie gehütet werden, und zum Zeichen dafür wird dein Mosaikbildnis in Sancta Praxedis bis in die fernste Zukunft überdauern! Dies wird so sein, weil die Göttin selbst es vor Zerstörung schützt – und weil dieses Bildwerk, das von der Schönheit einer weiblichen Kirche kündet, dereinst zum Auslöser für den Sturz des Papsttums werden soll!«
Nachdem die Sibylle geendet hatte, herrschte unter dem Dach des Schafstalles erneut für eine Weile Stille. Endlich atmete Branwyn wie befreit auf und flüsterte: »So wird es geschehen! Auch ich sehe es nun sehr deutlich vor mir. Am Ende siegt der Rote Drache, und alles was durch die Bösartigkeit des Weißen Drachen unterdrückt wurde, erlebt seine Wiedergeburt …«
Sie lächelte Samira zu. »Jetzt, da ich dies weiß, bin ich dir um so dankbarer für das, was du für mich getan hast! – Doch ich habe dich vorhin in
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