Die Bischöfin von Rom
die junge Frau es hinter dem niedrigen Vorgebirge bemerkt und gehofft, daß die Piraten, die im Gegensatz zu den anderen im Dorf vermutlich nüchtern geblieben waren, auch diesmal nicht auf sie aufmerksam werden würden. Zwar war bisher alles gutgegangen, aber sie durfte nicht leichtsinnig werden und setzte deshalb ihren Weg so rasch wie möglich fort.
Die Gefahr, die ihr von den Raubkriegern drohte, war freilich nicht der einzige Grund für diese Eile. Etwas anderes trieb Branwyn noch unwiderstehlicher voran: etwas, wovor sie sich unsäglich fürchtete – und dem sie trotzdem nicht ausweichen durfte. Ungefähr dreihundert Schritte würde sie ihrer Schätzung nach zurücklegen müssen; sie zählte sie, während sie lief, und wenig später wußte sie, daß sie sich nicht geirrt hatte.
Der erste Leichnam, auf den sie stieß, lag in einem Flachwassertümpel, den die ablaufende Flut zurückgelassen hatte, und war fürchterlich zugerichtet. Dasselbe galt für die übrigen, die sie nach und nach im näheren Umkreis entdeckte: an die dreißig zerschmetterte Körper. Erneut glaubte Branwyn das Bild vor sich zu sehen, wie die Leiber der hingeschlachteten Dorfbewohner von den Barbaren über den Rand der Steilküste hinausgeschleudert worden waren. Sie mußte ihre ganze innere Kraft aufbieten, damit der Schmerz sie nicht übermannte und sie ihre Aufgabe zu erfüllen vermochte.
Zuerst suchte die junge Frau nach Dafydd. Sie fand ihn fast direkt unterhalb des Einschnitts zwischen den beiden Riffs, wo die Felsspalte zu der verborgenen Fischerhütte führte. Weinend kniete Branwyn bei der Leiche des Mannes, der ihr alles bedeutet hatte; sie brauchte sehr lange, bis sie imstande war, ihm den letzten Liebesdienst zu erweisen. Dann aber zog sie ihn so vorsichtig wie möglich zu der kleinen Kluft und hinauf zur Hütte, dort bettete sie ihn schluchzend auf den steinigen Boden und drückte ihm die Augen zu. Anschließend barg sie die Körper von Arawn und Kigva, ebenso die von Dafydds Eltern Mirjam und Dylann sowie den Leichnam Jacwbs, des christlichen Priesters.
Eng beieinander lagen die Toten nun in der Halbhöhle; der Raum bot gerade ausreichend Platz für die sechs Menschen, die Branwyn am nächsten gestanden hatten. All die anderen mußte sie unten am Strand lassen; die nächste Flut würde sie hinaus aufs Meer tragen, und in der Tiefe der See würden auch sie zur Ruhe kommen. Mit diesem Gedanken trat die junge Frau auf das schmale Plateau vor der Grotte, richtete den Blick zu den Sternen und flehte die Götter an, den Seelen der Ermordeten Geborgenheit zu schenken und sie liebevoll auf den Pfad ihrer Wiedergeburt zu führen.
Danach besann Branwyn sich auf das, was sie jetzt für sich selbst zu tun hatte. Sie kehrte zum Eingang der Fischerhütte zurück, packte den Bug des Curraghs, der drinnen aufgebockt war, und hievte das leichte Boot über den Schrägen nach draußen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß das Paddel unter den Sitzbrettern festgezurrt war, schob sie den Curragh ein wenig abseits. Auf diese Weise schuf sie sich die nötige Bewegungsfreiheit, um den Zugang zu der niedrigen Halbhöhle zu verschließen. Sie brachte zunächst die hölzerne Türlade wieder an Ort und Stelle; anschließend trug sie schwere Steine von dem Wall heran, der das Plateau gegen die See hin begrenzte, und verbaute damit die Eingangsöffnung. Als sie fertig war, wies nichts mehr auf die Gruft hin, die sich in der Felswand verbarg; weder Mensch noch Tier würden die Totenruhe stören.
Die Nacht war mittlerweile weit fortgeschritten. Der Mond hatte beinahe den Zenit seiner Bahn erreicht, und in seinem Schein schleppte die junge Frau das Boot zum Strand. Als sie den Curragh an der Wasserlinie absetzte, wankte sie vor Erschöpfung; dumpf wurde ihr bewußt, daß sie seit dem Vortag nichts mehr gegessen und kaum etwas getrunken hatte. Nur am Morgen, während sie zur Ansiedlung unterwegs gewesen war, und dann wieder auf dem Rückweg in der Abenddämmerung hatte sie ein paar Schlucke Regenwasser aus der einen oder anderen Gesteinsmulde geschöpft. Ihre körperlichen Bedürfnisse waren ihr angesichts des Schocks, unter dem sie stand, gleichgültig gewesen, doch nun quälte sie brennender Durst. Sie lief noch einmal zu den Kliffs und tastete sich an ihnen entlang, bis sie Feuchtigkeit spürte, die von oben herabrieselte. Gierig schlürfte sie das Süßwasser; nachdem ihr Magen gefüllt war, atmete sie tief durch und fühlte, wie die Schwäche
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