Die Bischöfin von Rom
dieser Schutzschild; schlagartig wurden die seelischen Schmerzen beinahe unerträglich.
Aus den züngelnden Flammen, vom schwarz strudelnden Fluß her und ebenso aus der Finsternis des Forstes sprangen die Bilder sie an. Branwyn konnte sich nicht gegen sie wehren, in allen entsetzlichen Einzelheiten durchlitt sie noch einmal den vorgestrigen Tag, durchlitt ihn von dem Augenblick an, da panische Angst sie kurz vor Anbruch der Morgendämmerung zur Heiligen Quelle getrieben hatte, bis zur folgenden Nacht, als sie auf die zerschmetterten Leichen Dafydds und der anderen am Fuß der Klippen gestoßen war und die sechs Toten zur Fischerhütte geschleppt hatte.
Wieder sah sie die Ermordeten auf dem Boden der Halbhöhle liegen; sah sich selbst die Steinquader heranschleppen, um die Grotte zu verschließen – und dies war der Moment, da ihre Qual unerträglich wurde. »Warum?!« keuchte sie. »Warum hast du all das zugelassen?! Warum, Ceridwen?!«
Ihre Gedanken jagten sich: Jahr um Jahr hatten Arawn, Kigva und sie der Göttin gedient … So oft waren sie zum Born gegangen, um die Rituale zu vollziehen … Erst am Tag vor dem Piratenüberfall wieder … Als sie zusammen mit den Dorfbewohnern die Brote zum Quellheiligtum getragen hatten … Die Totenkopfbrote, aus denen zum Zeichen des neuen Lebens die Ähren sprossen …
»Du schenktest uns Hoffnung für die Zukunft, Ceridwen!« brach es aus ihr heraus. »Aber dann raubtest du uns alles! Nur gewaltsamer Tod und Sklaverei blieben für die, welche sich dir anvertraut hatten! Einzig ich entkam den Barbaren; niemand sonst, nur ich allein …«
So geschah es, weil ich dich rief!
Ganz deutlich vernahm Branwyn die lautlose Stimme: aus dem Wasser, dem Feuer und dem Wald heraus. Und im selben Augenblick begriff sie, daß ihre Rettung tatsächlich ein Wunder gewesen war. Im Traum hatte sie den Ruf gehört, der sie unwiderstehlich dazu gedrängt hatte, zur Heiligen Quelle zu laufen. Und wäre dies nicht so gewesen, dann hätte sie zweifellos das grauenhafte Schicksal der anderen geteilt; wäre ebenfalls niedergemetzelt oder verschleppt worden …
Die Göttin, jetzt wußte sie es unverbrüchlich, hatte sie nicht verlassen! Trotzdem blieb die Frage, die Branwyn abermals laut herausstöhnte: »Warum allein ich?! Und nicht Dafydd?! Nicht Arawn und Kigva?! Nicht Mirjam, Dylann und Jacwb, nicht die vielen anderen?! Warum hast du nicht auch sie gewarnt?!«
Diesmal bekam sie keine Antwort – doch unvermittelt glaubte sie, wieder ein Kind zu sein: ein dreijähriges Mädchen, das an der Hand seiner Mutter durch den Urwald irrte, bis sie sich beide unter einem niedergebrochenen Baumstamm verkrochen und das Röcheln der Sterbenden die enge Höhle aus vermodertem Laub und fauligem Holz erfüllte. Und auch sie, Branwyn, hätte damals nach menschlichem Ermessen in der Wildnis umkommen müssen, wenn Kigva auf der Suche nach seltenen Heilpflanzen nicht tief ins unwirtliche Innere der Lleyn-Halbinsel vorgedrungen und dort auf sie gestoßen wäre. Und später, nachdem die Frauen im Rundhaus auf der Ynys Vytrin sie aufgenommen hatten, waren die gallischen Händler nach Gwynedd gekommen und hatten davon berichtet, daß es im Norden der Halbinsel, wo die Ansiedlungen niedergebrannt worden waren, keine Überlebenden mehr gab …
»Du hast deine Hand über mich gehalten, als das Dorf am Yr Eifl verwüstet wurde – und nun hast du mich wiederum beschützt!« flüsterte die junge Frau. »Du, Ceridwen, die du in deiner dritten Gestalt die verschleierte Göttin bist. Die Dunkle, welche die Fäden zwischen Tod und Wiedergeburt knüpft; die Rätselhafte, die sowohl in der sichtbaren Welt als auch jenseits der Schwelle, in Annwn, wirkt. Die Nebel aber, die am Zugang zur Anderswelt weben, vermag der Blick von uns Sterblichen nicht zu durchdringen. Höchstens Schemen können wir erkennen, nur Ahnungen empfinden, die umfassende Gestalt deines Flechtwerks bleibt uns verborgen. Doch obwohl dies so ist, wissen wir um deine Güte und Liebe, selbst dann, wenn du uns scheinbar verlassen hast. Denn jedes Leben, das an sein Ende gelangt, entsteht dank deiner Kraft über die Brücke des Todes hinweg neu; nichts ist verloren, alles scheinbar erloschene Dasein wird bewahrt in dir, bis du ihm seine Wiedergeburt schenkst …«
Leise und ehrfürchtig hatte Branwyn zuletzt gesprochen; aus ihrem eben noch verzweifelten Aufbäumen gegen das Unverständliche war ein vertrauensvolles Gebet geworden. Und diese
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