Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
Vom Netzwerk:
Drache steht für die warme Kraft des Lebens, die durch unsere Adern kreist, unsere Herzen schlagen läßt und uns dazu bringt, das Schöne und Edle zu ersehnen«, erwiderte Eolo. »Sie ist es, die alles Dasein im liebevollen Geist Ceridwens beseelt – aber im Widerstreit mit ihr liegt die Macht des Weißen Drachen. Ihm mangeln Wärme und Sehnsucht nach dem Höheren, er kriecht in den Sümpfen, und sein Leib wird vom fahlen Gift des Hasses und der Zerstörungswut durchströmt.«
    »Die Barbaren, die über die Ynys Vytrin herfielen …« murmelte Branwyn.
    »Sie waren vom Ungeist des Weißen Drachen befallen«, bestätigte der Barde. »Und dieses Widergöttliche greift den Roten Drachen an, wo immer es dazu Gelegenheit findet. An unendlich vielen Orten des Erdballes geschieht dies unablässig, und längst wäre die Menschheit in tiefstes Elend abgestürzt oder hätte sich sogar selbst vernichtet, wenn sich der Rote Drache nicht gegen das Böse aufbäumen würde. Er ist es, der sich dem Verhängnis entgegenstemmt, und wenn es ihm gelänge, den Weißen Drachen zu besiegen, dann würde sich über die ganze Welt der ungetrübte Abglanz des Göttlichen breiten.«
    »Der Künstler, der das Bildnis auf deiner Harfe schuf, träumte davon«, sagte die junge Frau leise und deutete auf die Intarsien. »Wenigstens hier erringt der Rote Drache die Oberhand und erlöst damit die Erde. – Doch in Wahrheit triumphiert wohl eher der Weiße Drache …«
    Eolo schüttelte den Kopf. »In Wahrheit steht der Kampf unentschieden! Und es liegt an uns Sterblichen, ob die Waage sich letztlich zur einen oder anderen Seite neigt. Wir müssen wählen, auf welche Seite wir uns stellen wollen. Das ist es, was die Götter von uns verlangen. Nichts anderes meinte ich vorhin, als ich davon sprach, daß sie uns prüfen …« Er zögerte, ehe er schloß: »Was aber dich angeht, so fordern die höheren Mächte dich ganz offensichtlich weit mehr als gewöhnliche Menschen!«
    Ein Schauer rieselte Branwyns Rückgrat entlang; wie gebannt blickte sie auf die Fabeltiere, deren schuppige Körper sich im Flammenschein zu winden schienen: der Rote Drache in wildem Ringen über dem Weißen Drachen. Dann plötzlich erfüllte heiße, nie gekannte Sehnsucht ihr Innerstes; mit ihrem ganzen Sein wollte sie die Niederlage des Bösen – und einmal mehr fühlte der Barde, was in ihr vorging.
    »Wärst du schwach, dann hättest du dich längst der Verzweiflung hingegeben«, hörte sie seine Stimme. »Du hättest dich von den Göttern und damit vom Leben abgewandt und wärst zerbrochen. Doch du bist stark, bist um vieles stärker als andere! Und das bedeutet: Du kannst entscheidend in den Kampf der Drachen eingreifen! Nachdem du die schreckliche Fratze des Molochs erschaut hast, weißt du, welche Abgründe sich auftun, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird! Dies solltest du lernen, deswegen mußtest du all das Leid ertragen – um die Aufgabe zu erkennen, welche die höheren Mächte dir zugedacht haben!«
    Die Worte Eolos klangen in ihr nach, und es war, als würden sie Widerhall in der Natur finden. Unvermittelt rauschte der Wald auf, im Wasser des Baches bildete sich ein sausender Wirbel, aus dem Feuer heraus fegte ein Funkenregen. Andersweltliches verflocht sich einen Herzschlag lang mit dem Diesseitigen, für einen Augenblick öffnete sich die Pforte nach Annwn; gleichzeitig glaubte Branwyn den aus lautlosen Tönen sich formenden Satz zu vernehmen: Du wirst die Antwort bekommen!
    Im vergangenen Spätsommer, in der dritten Nacht nach dem Überfall der Piraten auf die Ynys Vytrin, hatte die Dreifache Göttin ihr dieses Versprechen gegeben, nun begann sich der Sinn der damals noch so dunklen Ankündigung zu entschlüsseln. Der Barde, der zum Mund Ceridwens geworden war, hatte ihr den Weg gewiesen; hatte ihr zumindest den Anfang des Pfades gezeigt, den sie nach dem Willen der Göttin beschreiten sollte.
    »Ich danke dir, Eolo!« flüsterte die junge Frau; tiefer, entrückter Ernst malte sich dabei auf ihrem Antlitz. Ehe der Barde etwas erwidern konnte, hatte sie sich erhoben und war aus dem Lichtschein des Feuers geglitten; sie mußte jetzt allein mit sich und den Gedanken sein, die auf sie einstürmten.
    Lange schaute Eolo Goch auf die Stelle zwischen den Bäumen, wo sie verschwunden war. Alles drängte ihn dazu, ihr nachzugehen, sie zu suchen und sie – auf andere Art als bei früheren Gelegenheiten – in seine Arme zu ziehen. Aber er wußte, er durfte es

Weitere Kostenlose Bücher