Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
Vom Netzwerk:
flacheren Hängen Platz, und als der Tag zur Neige ging, mündete der Wildbach, dem sie die ganze Zeit über gefolgt waren, in einen schilfumstandenen Bergsee mit smaragdgrünem Wasser. Sie lagerten an seinem Gestade; fast im Handumdrehen gelang es dem Barden, mehrere Forellen an Land zu ziehen, die Branwyn auf Weidenruten spießte und briet. Während sie sich das saftige Fleisch schmecken ließen, blickten sie nach Westen, wo die Strahlen der Abendsonne den nun schon weit entfernten Gipfelkamm des Eryri Gwyn vergoldeten; es war ein Bild, das die junge Frau und ihren Begleiter in eine träumerische, fast entrückte Stimmung versetzte.
    Im Verlauf der folgenden Tage wurde die Silhouette des Eryri Gwyn immer unwirklicher, bis sie sich zuletzt ganz auflöste. Branwyn und Eolo Goch wanderten, seit sie den See wieder verlassen hatten, unentwegt durch vielfach gegliedertes und völlig menschenleeres Bergland nach Süden. Manchmal, wenn der Pfad über die Waldgrenze emporstieg und sich um eine nackte Hügelflanke zog, sahen sie in der Ferne das Meer: die große Tremadog-Bucht, welche die junge Frau seit ihrer Flucht von der Ynys Vytrin nun beinahe ganz umrundet hatte. Irgendwo dort draußen, weit hinter dem Horizont, lagen die Lleyn-Halbinsel und das Eiland, auf dem sie so glücklich gewesen war und wo jetzt Dafydd und die anderen in ihrem Grab ruhten. Zuzeiten wirkte Branwyn aufgrund der schrecklichen Erinnerungen, die der Anblick der See in ihr wachrief, sehr bedrückt. Eolo war empfindsam genug, um zu ahnen, was in ihr vorging, aber er drang nicht in sie, sondern wartete ab, bis sie von sich aus darüber sprechen würde. Einen knappen halben Monat nach ihrem Aufbruch dann, sie saßen in dieser Nacht etwa einen Tagesmarsch nördlich des Mawddach-Fjords am Feuer, war es soweit.
    Branwyn starrte auf den Widerschein der Flammen, die sich in einem zu ihren Füßen vorbeifließenden Bach spiegelten. Der Barde rieb die Saiten seiner Handharfe mit einem Stück erstarrten Baumharzes ein, das er unterwegs gefunden hatte. Plötzlich vernahm er ein unterdrücktes Stöhnen Branwyns und richtete den Blick erschrocken auf sie; im gleichen Moment griff sie nach seiner Hand, umklammerte sie und stieß die Frage hervor, die sie seit dem Überfall der Piraten auf die Ynys Vytrin quälte: »Warum lassen die Götter das Böse in der Welt zu?!«
    Eolo antwortete nicht sofort, sondern streichelte sanft ihre Finger. Erst als er spürte, wie sie sich ein wenig entspannte, erwiderte er: »Ich weiß es ebensowenig wie du. Ich weiß nur eines: Wir müssen uns mit dem Abgründigen auseinandersetzen – und vielleicht zwingen die höheren Mächte uns dazu, weil sie uns prüfen wollen …«
    »Durch den grausamen Tod Unschuldiger?!« brach es aus der jungen Frau heraus. Abrupt entzog sie ihm ihre Hand; erneut glaubte sie die geschändeten Leiber der Ermordeten vor sich zu sehen: Dafydd und seine Eltern, Kigva, Arawn, Vater Jacwb und Dutzende weitere. »Das soll in der Absicht der Götter gelegen haben, um mich, die einzige, die verschont wurde, zu prüfen?!« Sie rang mit den Tränen, dann setzte sie tonlos hinzu: »Nein, ich kann keinen Sinn darin erkennen …«
    Der Barde schwieg. Abermals ließ er ihr Zeit, sich zu fassen; endlich hörte er sie flüstern: »Und dennoch muß es einen Sinn geben …« Wieder berührte sie ihn und bat: »Erkläre mir, was du vorhin meintest!«
    Noch immer hatte Eolo die Handharfe in seiner Armbeuge liegen. Jetzt hob er sie hoch und hielt sie so nahe ans Feuer, daß Branwyn die Intarsien auf dem Klangkörper, die ihr früher schon aufgefallen waren, erkennen konnte. Die Einlegearbeit zeigte zwei miteinander kämpfende Drachen. Der geschuppte Körper des einen leuchtete in dunklem Rot, der zweite schimmerte elfenbeinfarben, und der rote Drache war soeben im Begriff, den weißen zu überwinden. Die Finger des Barden fuhren die Konturen des meisterlich ausgeführten Bildnisses nach; Branwyns Augen folgten der Bewegung, schließlich vernahm sie die Worte: »Der Künstler, der diese Harfe lange vor meiner Geburt auf Môn Mam Cymru schuf, stand in dem Ruf, sehr große Weisheit zu besitzen. Er erwarb sein hohes Wissen, weil auch er ein Ringender war, der sich ebenso wie du die Frage nach dem Sinn des scheinbar Unbegreiflichen stellte. Und er drückte seine Erkenntnis durch das Sinnbild des Drachenkampfes aus …«
    »Welche Bedeutung haben die beiden andersweltlichen Wesen?« kam es von der jungen Frau.
    »Der Rote

Weitere Kostenlose Bücher