Die Bismarcks
Kontrolle durch die Politik entgleiten und vor allem die anderen Mächte auf den Plan rufen würde. Moltke war weitaus prinzipieller, enger, blind in seinem Frankreichhass. Nach Sedan verschärfte sich der Gegensatz zwischen den beiden Männern. Bismarck wurde über die Kriegslage nur unzureichend informiert. Mitunter erfuhr er mit fünftägiger Verspätung aus der Presse, was im Hauptquartier diskutiert wurde. Spätestens als sich Mitte September 1870 der Ring um Paris geschlossen hatte und im Hauptquartier von Versailles über den Zeitpunkt für den Beginn einer Bombardierung der Stadt gesprochen wurde, gerieten die beiden Schwergewichte aneinander. Moltke hatte vorübergehend einen Beschuss der Millionenstadt erwogen, Bismarck verlangte ihn nun kategorisch, um ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen. Der König wirkte unentschlossen, zeigte aber Bewegung, weil ihn sein Umfeld bearbeitete. Vor allem die Kronprinzessin und ihre Mutter waren gegen eine Beschießung des »Mekkas der Zivilisation«.
Als Ende Dezember 1870 ein Pariser Fort mithilfe der Artillerie ausgeschaltet wurde und eine Intensivierung des Beschusses drohte, gab die Stadt (glücklicherweise) wegen Nahrungsmangels auf. Der amerikanische General Sheridan, Sieger im wenige Jahre zuvor zu Ende gegangenen amerikanischen Bürgerkrieg und nun Bevollmächtigter seines Landes im deutschen Hauptquartier, sagte: »Die Deutschen … verstehen es, einen Feind zu schlagen wie keine andere Armee, aber ihn zu vernichten, das haben sie noch nicht gelernt.« 51 Und: »Es muss den Leuten nichts bleiben als die Augen, um den Krieg zu beweinen.«
Der Krieg gegen Frankreich, der hier und da wegen der Guerillataktik der Franc-tireurs genannten Freischärler ausartete und in manchen Momenten den asymmetrischen Konflikten der Gegenwart ähnelte, wurde am Ende nach den Vorstellungen Bismarcks beendet. Der König beauftragte ihn mit der Verhandlungsführung über eine Kapitulation und einen Waffenstillstand. Der Primat der Politik hatte sich noch einmal durchgesetzt, dank der Persönlichkeit Bismarcks. Seine Leistung, aus einer aussichtslosen Position binnen weniger als einem Jahrzehnt den deutschen Nationalstaat zu bauen, lässt sich mit dem Bild eines Schwimmers vergleichen. Bei starkem Wellengang schützt er über lange Zeit hinweg wassertretend mit der linken Hand ein großes Gepäckstück vor Nässe – Preußen-Deutschland –, mit der rechten hält er einen Nichtschwimmer über Wasser – seinen Monarchen. Auf eine ganz unerwartete Weise hatte sich die Bemerkung Bismarcks aus den 1840er-Jahren vom »Strom des Lebens« bewahrheitet. Freilich hatte ihn dieser Strom an einer Stelle an Land geworfen, die weder er noch der König oder seine politischen Freunde vorausgesehen hatten.
Reichskanzler
Die Kaiserproklamation hat schon auf die Zeitgenossen merkwürdig gewirkt. Sie fand im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles statt, also im Land des geschlagenen Gegners, mit dem man das 1000 Jahre zurückliegende karolingische Erbe teilte. Aber daran dachte 1871 niemand. »Ich kann Dir gar nicht beschreiben«, schrieb der bayerische Kronprinz Otto an seinen Bruder Ludwig II. , den »Märchenkönig«, »wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Szene zu Mute war … Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer.« 52 Grußlos ging der Kaiser nach der Zeremonie an Bismarck vorbei. Ihm hatten das Verfahren bei der Inthronisation und der Titel Deutscher Kaiser nicht gepasst. Er pfeife auf den Charaktermajor, hatte der Monarch am Vorabend in Anspielung auf die Praxis gesagt, dem aus dem aktiven Dienst ausscheidenden Hauptmann den Rang des Majors zu gewähren. Auch Bismarck war gereizt. Als ihm am selben Tag die Beförderung zum Generalleutnant eröffnet wurde, entgegnete er: »Wat ik mich davor koofe?«
Bismarck befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber er triumphierte nicht. Außenpolitisch war er fortan ein Mann der Mitte. Das Reich war in seiner Sicht saturiert. Binnen knapp fünf Jahren war es von der schwächsten Position in der europäischen Pentarchie ganz nach vorn gerückt und hatte Frankreich als bevölkerungsstärkstes Land in Europa überholt. Selbst in der Stunde des größten Triumphes blieb Bismarck zurückhaltend und kühl. Er wusste um die prekäre Stellung des Reichs im Konzert der Mächte. Schon vor der Kaiserproklamation, die mit der Kapitulation von Paris zeitlich ungefähr zusammenfiel,
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