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Die Bismarcks

Die Bismarcks

Titel: Die Bismarcks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Thies
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hatte er gesagt: »Die Leute ahnen nicht, was die Lage ist. Wir balancieren auf der Spitze eines Blitzableiters; verlieren wir das Gleichgewicht, das ich mit Mühe herausgebracht habe, so liegen wir unten.« 53 Nur wenige Tage nach der Reichsgründung bezeichnete der damalige konservative Oppositionsführer im englischen Unterhaus, Benjamin Disraeli, die Reichsgründung am 9.   Februar 1871 als ein »größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts«. 54 Damit wiederholte und variierte Disraeli die Befürchtung, die er schon 1848, in den Tagen der Paulskirchenversammlung, geäußert hatte, dass das Deutsche Reich zu groß für Europa sei.
    Am 16.   Juni 1871 zog Bismarck an der Seite von Roon und Moltke bei einer Siegesparade in Berlin ein. Über eine Million Menschen säumten bei schönstem Sommerwetter die Straßen. Bismarck wurde in den Fürstenstand erhoben und erhielt als Geschenk die Domäne Friedrichsruh in der Nähe von Hamburg, ein riesiges Waldgebiet, Sachsenwald genannt, und dazu eine größere Fläche Ackerland im geschätzten Wert von drei Millionen Mark. Plötzlich war er so etwas wie ein politischer Star geworden. Ehrendoktorwürden regneten auf ihn herab, Straßen, Plätze, Gebäude, Brücken, Tunnel, Obelisken, Türme und Schiffe wurden nach ihm benannt. Eine besonders pfiffige Idee hatte ein Fischhändler in Stralsund. Er gratulierte dem Kanzler im April 1871 zum Geburtstag und überreichte ihm ein Holzfässchen mit gepökelten Heringen. Bismarck gestattete ihm, sie als Bismarck-Heringe bezeichnen zu dürfen. Und so heißen sie bis heute.
    Ebenfalls bis heute erinnert im Pazifischen Ozean ein Archipel an Bismarck. Im US -Bundesstaat North Dakota erhielt eine Stadt, ein Eisenbahnknotenpunkt, seinen Namen. Bismarck wurde in den USA nun sehr bekannt und beliebt. Carl Schurz, der 1848 Deutschland verlassen hatte und in den USA General und Politiker geworden war, sagte nach der Reichsgründung: »Die große Seele Deutschlands, die viele Menschenalter hindurch wie ein Gespenst in der Weltgeschichte umging, hat endlich wieder einen festen Körper gefunden.«
    Bismarcks Popularität im eigenen Lande und der Respekt, den er im Ausland genoss, gingen einher mit einem radikalen Rückzug auf sich selbst und einer bewusst gewählten Einsamkeit. In ihr lebten die Grundfigur und die Merkmale fort, die schon den jungen Bismarck in den 1830er- und 1840er-Jahren ausgezeichnet hatten. Aber die träumerische, sentimentale Seite, die er weiterhin bei sich sah, konnte er nicht mehr ausleben. Bismarcks Existenz im Sachsenwald, so der Befund eines seiner großen Biografen, »hatte insofern etwas ganz Künstliches: Sie war die private Beschwörung einer Lebensform, an der er in Wahrheit in keiner Weise mehr teilhatte.« 55
    Besonders auffällig war sein anhaltendes Interesse an der Geschichte. Sie war für ihn kein Leitfaden für politisches Handeln, bot aber Orientierung in der gegebenen konkreten Situation. »Man kann nicht selber etwas schaffen«, hat er mit der Demut gesagt, die ihn am Ende als Staatsmann auszeichnete. »Man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen – das ist alles.« Bismarck kannte u.   a. das Werk des französischen Historikers Hippolyte Taine, den er höher einschätzte als die meisten deutschen Fachkollegen. Es gebe zwei Gattungen von Historikern, sagte er einmal mit Anspielung auf Heinrich von Sybel. »Die einen machen die Wasser der Vergangenheit klar, so dass man auf den Grund sehen kann, die anderen machen die Wasser trübe.« 56
    Bismarcks Selbstisolierung hatte viele Ursachen: eine permanente Überforderung im Tagesgeschäft, der Kampf gegen Krankheiten, Wissen um die eigene herausragende Stellung, die extreme taktische und strategische Begabung, Misstrauen gegenüber Konkurrenten – nur seinem Sohn Herbert traute er –, Härte gegen sich selbst und gegen andere sowie das ewige Ringen um die Gunst und Zustimmung des Monarchen. Nur er war für Bismarck wichtig. Mit ihm war er wie durch eine politische Nabelschnur verbunden. Aber er musste das Umfeld beobachten, die Intrigen am Hof, die wachsende Zahl der Neider und die erbitterte Gegnerschaft zur Kaiserin. An ihr hatte sich seit 1848 nichts geändert, und bei diesem Zustand blieb es auch nach 1871. In einem Moment der Wahrheit hat Bismarck im Sommer 1890 dem Korrespondenten einer bayerischen Zeitung

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