Die Bismarcks
Patriotismus kurz vor dem Magen halt.« Lange Zeit war Bismarck gertenschlank gewesen, nun war er nicht wiederzuerkennen. 1879 wog er knapp 130 Kilo. Ein Gast notierte nach einem Besuch: »Ich hatte die Empfindung, dass er ein Riese wäre, der einen armen Pygmäen führt.«
Ein Jahr später begab sich Bismarck in die Hände eines jungen bayerischen Arztes, der ihm eine scharfe Diät verordnete. Bald darauf wog Bismarck nur noch 90 Kilo und hatte wesentlich weniger Schlaf- und Gesundheitsprobleme als bislang. »Er ist überhaupt der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der Macht über mich gewonnen hat und dem ich nahezu unbedingten Gehorsam leiste«, hat Bismarck über diesen Dr. Ernst Schweninger gesagt.
Derweil änderte sich das Gesicht Deutschlands. Hatten die Schotterstraßen und Pisten bis dahin einige Kilometer hinter den regionalen Zentren geendet, so überzog nun ein deutschlandweites Straßen- und Eisenbahnnetz die junge Nation. Nach den Mitgliedern des Norddeutschen Bundes waren ihm Ende 1870 auch die süddeutschen Staaten beigetreten. Eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik erfasste das Land und machte Bismarck phasenweise zu einem Getriebenen, weniger zu einem Gestalter der Einheit.
Während der zwei Jahrzehnte, die Bismarck Kanzler des Deutschen Reiches war, stieg die Bevölkerungszahl von 40 auf 50 Millionen. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung gehörten zu anderssprachigen Minderheiten. Eine riesige Ost-West-Binnenwanderung verschärfte die Ungleichgewichte zwischen dem bevölkerungsreichen Westen Preußens und seinem weniger entwickelten Osten, der ursprünglichen Machtbasis der Monarchie. Rasant war auch die Entwicklung von Berlin, dessen Einwohnerzahl von 826 000 im Jahre 1871 auf 1,6 Millionen im Jahre 1890 stieg.
In der deutschen Innenpolitik stand nun die Überwindung der Kleinstaaterei an, die Herstellung eines einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraumes. Ein Münzgesetz ersetzte die bis dahin existierenden sieben verschiedenen Währungsgebiete. Die Gründung der Reichsbank beendete die Zeit mit 33(!) Notenbanken. Auch diese Maßnahmen setzten große wirtschaftliche Wachstumskräfte frei, vor allem in der Schwerindustrie und im Maschinenbau. Später kam die Elektroindustrie hinzu. 1873 endete der durch eine hohe französische Kriegskontribution getriebene Boom in einer ersten Wirtschaftskrise, dem sogenannten Gründerkrach. Sinkende Löhne und Arbeitslosigkeit trafen die Arbeiter, an den Rändern von Berlin wuchsen Barackensiedlungen empor. Tausende von Berlinern verloren ihre Wohnungen und gingen auf die Straße. In dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit konnte der Antisemitismus in Deutschland politisch Fuß fassen. Im ländlichen Bereich hatte es ihn auch schon früher gegeben, auch Bismarck war gegen gelegentliche Ausfälle nicht gefeit, obwohl er in Bleichröder einen jüdischen Vermögensberater hatte. 58 Aber er war und wurde kein Antisemit.
Während in Preußen das Dreiklassenwahlrecht herrschte, galt für den Reichstag das allgemeine und freie Wahlrecht. Hier konnte sich Bismarck bis in die 1880er-Jahre hinein auf die Nationalliberalen stützen. Aber die politische Landkarte hatte sich in der Zwischenzeit verändert. Zwei Gegner, oder besser gesagt politische Formationen, traten auf, die Bismarck aus einer Reihe von Gründen als Gegner betrachtete und entsprechend behandelte: die Katholiken und die Sozialisten. Bereits 1872 entstand die Zentrumspartei als politischer Arm des Katholizismus. Bismarck verwickelte sie in eine anhaltende Auseinandersetzung, den sogenannten Kulturkampf; der Begriff entstand 1873 bei einer Rede des liberalen Abgeordneten Virchow im Parlament. Wenige Jahre später entwickelte sich als Begleiterscheinung des Konflikts eine innerfamiliäre Tragödie bei den Bismarcks. Es ging um eine Frau, und am Ende blieb Herbert, der Sohn des Kanzlers, auf der Strecke.
Der Auftritt des Reichskanzlers wurde in jeder Hinsicht robuster. Als es im Februar 1875 Gerüchte um seinen Rücktritt gab, notierte der älteste Sohn des Kaisers, der spätere Neunundneunzig-Tage-Monarch Friedrich Wilhelm, in seinem Tagebuch: »Für mich ist dies ein Beleg mehr für meine Behauptung, daß B. sich wieder einmal in seiner allmächtigen Unentbehrlichkeit hat der Welt vorführen lassen wollen; er spitzt immer mehr Alles auf seine einzige Person zu, wohl wissend daß von seinen Launen ausschließlich die Leitung der Staatsangel. abhängig ist. Auf Kosten des Ansehens, ja
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