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Die Bismarcks

Die Bismarcks

Titel: Die Bismarcks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Thies
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mit anderen Großen in Europa zu vergleichen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihn als Begründer des modernen deutschen Nationalstaats zu sehen. Schon Stresemann sprach in den schwierigen Jahren der ersten deutschen Republik vom »missverstandenen Bismarck«.
    In einer längeren Perspektive verdient Bismarck es, in das Führungspersonal, in die Linie jener großen europäischen Politiker eingereiht zu werden, die in ihren Ländern als Vaterfiguren, als bedeutendste Staatsmänner der Neuzeit angesehen werden. Gemeint sind in Großbritannien Winston Churchill (1874   –   1965) und in Frankreich Charles de Gaulle (1890   –   1870). Die Schnittmenge der gemeinsamen Lebensspanne zwischen Bismarck und Churchill betrug immerhin 24   Jahre, die mit de Gaulle nur acht Jahre. Bismarck teilte mit ihnen die Weltsicht des Konservativen, bisweilen die des Reaktionärs und innergesellschaftlichen Bremsers. Aber die innenpolitischen Defizite des Engländers und des Franzosen verschwanden im Laufe der Zeit aus den nationalen Betrachtungen. Was blieb, war ihr Beitrag zur Rettung der Nation in Krisenzeiten und Kriegen, ihre persönliche Durchhaltefähigkeit, ihre Unabhängigkeit in Jahren mit anderen politischen Mehrheiten, die Schärfe ihres Urteils, das Ausmaß der zutreffenden Lageeinschätzung und ihr persönlicher Einsatz bis hin zum Lebensrisiko. Im Berliner Regierungsviertel ist Bismarck nicht sichtbar. Eigentlich gehörte das Denkmal, das die Nationalsozialisten 1938 versetzten, wieder vor den Reichstag, ergänzt um eine zeitgenössische Interpretation. Als kleiner Ersatz hängt er, gut entsorgt, in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft – in der Uniform der Magdeburger Kürrassiere.
    Der Verfasser der jüngsten großen Bismarck-Biografie, der amerikanische Historiker Jonathan Steinberg, betont die in Bismarcks Persönlichkeit begründete Ironie. »He ruled Germany by making himself indispensable to a decent, kindly man, who happened to be a king« 72 , schreibt er. – Bismarck regierte Deutschland, indem er sich für einen Mann unentbehrlich machte, der zufällig König war. Steinberg meint, Bismarck sei ohne die Macht, die ihm vom König zuteil wurde, politisch nicht zurechtgekommen, aber die Konstellation habe ihn unzufrieden gemacht. Man lebte daher 26   Jahre lang in einer Beziehung, die von Liebe und Hass gleichermaßen gekennzeichnet war. »The ultimate and terrible irony of Bismarck’s career lay in his powerlessness.« Dennoch hält der amerikanische Historiker, den Blick weit über Deutschland hinaus gerichtet, Bismarck für »one of the greatest political figures of all times«. 73
    Von den deutschen Bismarck-Biografen, die nach der Wiedervereinigung Werke über den Reichskanzler verfassten, ist Bismarck für Eberhard Kolb »zweifellos der bedeutendste deutsche Staatsmann des 19.   Jahrhunderts«. 74 Zur Erklärung, warum es noch immer Streit um seine Bedeutung für die deutsche Geschichte gibt, führt Kolb zum einen die unterschiedliche Bewertung seines Erbes an, zum anderen die Ausformung des Bismarck-Mythos. Volker Ullrich hebt in seiner Analyse hingegen stärker auf die Innenpolitik ab. Der Reichskanzler habe »ein Element der Gewalttätigkeit in die innere Politik« hineingetragen. 75 Die Folgen für die deutsche Politik seien schwerwiegend gewesen: die Knebelung von Parlament und Parteien, die Gängelung der Presse, die Herausbildung einer reaktionären Beamtenschaft, das Spielen mit dem Gedanken des Staatsstreichs sowie Ansätze von Antisemitismus. Mit der Wiedervereinigung, so Ullrichs optimistischer Ausblick, gehöre der umstrittene Staatsmann »erst jetzt ganz der Geschichte« an. Nun könne man ihn »in seinen Grenzen und Leistungen vorurteilsfreier betrachten …, als es früheren Generationen möglich war«.
    Der amerikanische Historiker Otto Pflanze meint wie Ullrich, »Bismarck würde im heutigen Deutschland nicht mehr viel Vertrautes finden« – mit einer Ausnahme: »Das Sozialversicherungssystem, dessen Ausbildung er anregte, ist, wenn auch stark modifiziert, noch heute in Funktion und in der westlichen Welt weithin nachgeahmt worden.« 76 Bismarck, so argumentiert Pflanze, modifizierte das politische System seiner Zeit, um es zu retten. Pflanze zieht hier interessanterweise einen Vergleich zwischen dem Reichskanzler und US -Präsident Franklin D. Roosevelt. Dem Außenpolitiker Bismarck bescheinigt er Größe und Talent. Den Innenpolitiker, der Dämme baute und

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