Die Bismarcks
hatte, trat nun mit Ansprachen im Freien auf. Menschenmassen durchbrachen immer wieder die polizeilichen Absperrungen und überschütteten ihn und seine Frau geradezu mit Blumen. Die Begeisterung nahm kein Ende. Die Menschen warteten bei strömendem Regen entlang der Bahnstrecken auf Bismarck, ohne genau zu wissen, wann der Zug vorbeifahren würde. Ganze Garnisonsstädte standen am Bahnsteig stramm, Universitätsstädte begrüßten ihn mit Delegationen von Corpsstudenten. Als der Alte nach sechswöchiger Reise Anfang August 1892 nach Friedrichsruh zurückkehrte, sah er wesentlich jünger aus als bei seiner Abreise.
Diese Demonstration bislang nicht gekannter Popularität Bismarcks im eigenen Lande, nicht nur in seiner Junker-Bastion in deutschen Nordosten, sondern auch in der Hauptstadt, in Sachsen, in Bayern, sogar in Österreich, blieb nicht ohne Folgen für das politische Berlin. Wilhelm II. musste einsehen, dass es für ihn und seine Regierung ein großes politisches Risiko bedeuten würde, wenn es vor dem Ableben des Exkanzlers zu keiner Versöhnung mit ihm käme. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Bismarck nicht einmal Geburtstagsgrüße von Wilhelm erhalten, ebenso wenig war er zum 90. Geburtstag seines politisch-militärischen »Gespanngefährten« Generalfeldmarschall von Moltke und zu dessen Staatsbegräbnis im April 1891 eingeladen worden. Wilhelm bequemte sich daher 1894 zu einer Einladung an Bismarck ins Berliner Schloss, die ihm ein kaiserlicher Adjutant zusammen mit einer Flasche Wein überbrachte. Im Volksmund hieß sie später in Anspielung an die Weinlagen am Vesuv »Lacrimae Caprivi«. Der Alte nahm die Einladung an. Auch bei diesem eintägigen Aufenthalt jubelten 400 000 Berliner Bismarck zu. Die Entstehung einer mythologischen Figur war nicht mehr aufzuhalten.
Wenige Wochen später kam es zu einem Gegenbesuch des Monarchen in Friedrichsruh, der mit Kalauern bestritten wurde. Man hatte sich nichts mehr zu sagen. 67 Logischerweise blieben die Geburtstagsglückwünsche des Kaisers bei den nächsten Geburtstagen wieder aus.
Wie war es zu diesem Stimmungsumschlag in Deutschland gekommen? Was waren die Gründe für die Bismarck-Begeisterung? Sie hatte zum einen mit Caprivi, dem Nachfolger des Reichskanzlers, zu tun, der von den Deutschen mehrheitlich abgelehnt wurde. Man empfand seine Regierungszeit als Stagnation. Die andere Stoßrichtung galt dem Kaiser, dessen persönliches Regiment als eine einzige Abfolge von mittleren und größeren Katastrophen angesehen wurde. Die Exponenten des neuen Bismarck-Kults, bei dem man es mit den Fakten der Regierungszeit des Kanzlers nicht allzu genau nahm, waren die Konservativen und jene Kreise, die man als neue Nationalisten bezeichnen konnte. Auch das starke protestantische Element bei der Verehrung war nicht zu übersehen: Offiziere, Professoren, Lehrer, Handwerker, Studenten und Schüler. Das Zentrum machte später seinen Frieden mit Bismarck, die Sozialdemokraten, als »vaterlandslose Gesellen« beschimpft, blieben hingegen unversöhnlich.
Die Einsamkeit Bismarcks nahm zu, als seine Frau Johanna am 27. November 1894 im Alter von 70 Jahren starb. Seinen Bruder Bernhard hatte er ein Jahr zuvor verloren, die besten Freunde aus der Jugendzeit, mit denen er sich immer wieder getroffen hatte, waren ebenfalls nicht mehr da: Motley, von Blanckenburg und Graf Keyserling. Seinem Sohn Bill schrieb Bismarck, er »vegetiere in Frieden weiter«. Nach dem Tod von Johanna, die Zeit ihres Lebens an asthmatischen Beschwerden gelitten hatte und selten schmerzfrei gewesen war, verließ Bismarck Friedrichsruh nicht mehr. Er ging vermehrt mit seinen geliebten Hunden spazieren. Seine Familie rückte nun enger mit ihm zusammen. Bismarcks Tochter Marie zog mit ihren Kindern zu ihm, ihr Mann, der Diplomat Kuno von Rantzau, beendete seine berufliche Laufbahn und gab den Posten als Gesandter im Haag auf.
Als Bismarck am 15. April 1895 seinen 80. Geburtstag feierte, wollten die Ehrungen kein Ende nehmen. Das Postamt von Friedrichsruh wurde um zwei Dutzend Mitarbeiter verstärkt, um mit der Lawine an Post fertig zu werden, die über dem Jubilar niederging. Fast 10 000 Telegramme gingen ein, Tausende von Paketen sowie nahezu eine halbe Million Postkarten und Briefe. Wenn Bismarck bis dahin 35 Mal Ehrenbürger geworden war, kamen jetzt 450 weitere Ehrungen dieser Art hinzu. Die Nation hatte Nachholbedarf. Um den alten Herren nicht zu überfordern, wurde das Programm über
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