Die Bismarcks
100 Mark und einem Jahresgehalt. Für die Belange der Unterprivilegierten, für die Forderungen der Sozialdemokratie hatte er in seinen letzten Lebensjahren immer weniger Verständnis gehabt, sich mitunter zu inakzeptablen Auffassungen verstiegen, aber um »seine Leute« kümmerte er sich durchaus.
»Man überschätzt meinen Ehrgeiz, aber man unterschätzt mein Selbstgefühl«, hat Bismarck einmal gesagt und bei anderer Gelegenheit hinzugefügt: »Auf Titel und Orden habe ich niemals großen Wert gelegt, so wenig wie auf Denkmäler, die man mir errichtet hat und errichten will; ich will weder ein Schaustück sein noch mich versteinert oder am wenigsten bei Lebzeiten als Mumie sehen. Mir genügt mein einfacher Name, und ich hoffe, dass er auch in der Zukunft genügen wird, die vielleicht weniger auf hohe Titel als auf erfolgreiche Taten sehen wird.« Dem preußischen Diplomaten und Vertrauten von Keudell, der ihm als Klavierspieler besinnliche und schöne Stunden bereitet hatte, hatte Bismarck Jahre zuvor bei der Anlegung einer Baumlichtung, nicht frei von Sentimentalität, gesagt: »Wenn meine politischen Taten längst vergessen sind, werden diese Pflanzungen beweisen, dass ich gelebt habe« – ein geflügeltes Wort, das auch für seine Nachfahren gilt. 68
Über historische Größe –
Bismarck, Churchill und de Gaulle
»Die wirkliche Größe ist ein Mysterium«, schrieb Jacob Burckhardt. »Das Prädikat wird weit mehr nach einem dunklen Gefühle als nach eigentlichen Urteilen aus Akten erteilt oder versagt; auch sind es gar nicht die Leute vom Fach allein, die es erteilen, sondern ein tatsächliches Übereinkommen Vieler.« 69 Im Falle Bismarck gibt es dieses Übereinkommen, sofern es je existiert hat, nicht mehr. Das Bild der Deutschen über den Reichsgründer ist gespalten. Aber niemand spricht ihm die Größe ab. In den Worten des de Gaulle-Biografen Lacouture sind Bismarck, Churchill und de Gaulle »ein Gebirge, das man nicht ohne Mühe besteigt und nicht ohne ein Schwindelgefühl betrachtet«. 70
In einem Land, in dem die Außenpolitik nach den Erfahrungen von zwei Weltkriegen und der Katastrophe des deutschen Nationalstaats in der öffentlichen Debatte und Wahrnehmung nicht den Stellenwert hat, der ihr zukommt, verengt sich der Blick zwangsläufig auf Bismarcks Innenpolitik, auf seinen Kampf gegen die SPD und gegen die Katholiken, auf den unvollendet gebliebenen deutschen Demokratisierungsprozess und den Zivilisationsbruch von 1933 bis1945. All dies wird direkt oder indirekt dem Reichsgründer angelastet. Auch in Deutschland sind nicht wenige der Ansicht, dass es eine Verbindungslinie von Luther über Bismarck zu Hitler gebe, auch wenn die Geschichtsforschung diese These längst verworfen hat.
Deutschland hat nicht mehr den territorialen Umfang, den es zur Zeit Bismarcks hatte. Gut ein Drittel des damaligen Staatsgebiets gingen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verloren. Aber der Nationalstaat, den er schuf, von dem die deutschen Patrioten 1848 träumten, existiert nun in seinem verbliebenen »Rest«. Er wird nicht infrage gestellt, es gibt keine Gebietsforderungen, und er ist untrennbar an den Gedanken der Freiheit und der westlichen Werte geknüpft. 71 In der Nacht, als die Mauer fiel, und spätestens, als Helmut Kohl seine Rede vor den Trümmern der Dresdener Frauenkirche hielt, begriffen auch die Zweifler, dass es die deutsche Nation ungeachtet der Katastrophen der deutschen Geschichte weiterhin gibt. Mythen und politische Debatten der letzten 100 Jahre wirken unterdessen fort. Beim Deutschland-Besuch von Papst Benedikt XVI. im September 2011 hatte man in manchen Momenten das Gefühl, als wenn die Themen der 1880er-Jahre noch einmal aufleben würden.
Bismarck hat die Entwicklung Deutschlands, die bis zum 30. Januar 1933 Alternativen zu Hitler bot, nicht vorhersehen können. Das Schicksal seiner Enkel gibt Hinweise darauf, wie er über den böhmischen Gefreiten gedacht hätte. Die SPD , die schon 14 Jahre nach Bismarcks Tod zur stärksten deutschen Partei wurde, stellte wenige Jahre später in den chaotischen Übergangsverhältnissen von der Monarchie zur Republik den Kanzler. Und die Katholiken wurden unter Adenauer, auch wenn die CDU / CSU viele Protestanten in ihren Reihen hatte, die Gründerväter der zweiten deutschen Republik. Anlass genug, Bismarck ein weiteres Dreivierteljahrhundert später einer gelasseneren historischen Betrachtung zu unterziehen. Es ist an der Zeit, ihn
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