Die Bismarcks
Kanäle grub, »um dem Strom eine andere Richtung zu geben«, kritisiert Pflanze hingegen. Pflanze resümiert dann: »Für die fast drei Jahrzehnte insgesamt glänzender Führung seiner Außenpolitik zahlte Deutschland innenpolitisch einen hohen Preis. Dieser Preis war das Opfer einer über halbhundertjährigen Erfahrung in der Selbstregierung, die einer liberalen und demokratischen Tradition erlaubt hätte, so feste Wurzeln zu fassen, dass der Sturm des Totalitarismus sie nicht hätte hinwegfegen können.« 77 Die Wiedervereinigung sieht Pflanze als eine Zäsur bei der Bewertung von Bismarck. Es gibt »Anzeichen für ein Wiederaufleben des deutschen Nationalgefühls. Es wäre nicht überraschend, wenn damit auch der mythische Bismarck zu neuem Leben erwachte (diesmal allerdings ohne Beistand der meisten Historiker)«. 78
Ernst Engelberg bescheinigte 1990 im zweiten Band seiner viel beachteten Biografie dem Reichsgründer Bismarck eine große außenpolitische Leistung. Deutschland sei 1871 dem Reichskanzler zufolge territorial saturiert gewesen. Bismarck habe Deutschland mithilfe einer Gleichgewichtspolitik im Kreis der europäischen Mächte halten wollen. 79 Die Alternative, nach der Deutschland besser eine Ansammlung von Kleinstaaten hätte bleiben sollen, verwarf der aus Baden stammende renommierte DDR -Historiker. Für ihn zählten »das nationalstaatliche Testament der deutschen Revolution von 1848/49« und der Strom der allgemeinen Geschichte der Zeit mehr als alles andere. Kritisch fiel auch bei diesem Autor die innenpolitische Bilanz aus, vor allem mit Blick auf Bismarcks Feindschaft gegenüber allen demokratischen Kräften, insbesondere der Arbeiterbewegung, und auf seinen »eingefleischten Royalismus«. Engelberg folgerte daraus: »Die Tragik einer reichentwickelten Persönlichkeit wurde zur Tragik der Nation.« Und er kam zu dem Schluss, der Parteienstreit um Bismarck habe sich zwar von Generation zu Generation verändert, »aber er ist geblieben«. Vermutlich hat Engelberg recht.
Lothar Gall sah 1980 die Auseinandersetzung um Bismarck noch nicht zur Ruhe gekommen. 80 »Noch immer scheint das Selbstbewusstsein der Nation durch die äußere Gestalt der Reichsgründung von 1871 bestimmt zu sein. Noch immer scheinen Verhaltensweisen, Institutionen, das Eigenverständnis von Parteien, sozialen Gruppen und gesellschaftlichen Verbindungen aller Art durch die Traditionen des Bismarckreiches, wenngleich in vielfältigen Brechungen, wesentlich mitgeprägt zu sein.« Gall fuhr fort: »Auf diese Weise ist Bismarck als politische Figur zugleich der Mann geblieben, der für die Deutschen wie für die Welt, und sei es in kritischer Distanz, wie sie heute sicher überwiegt, die Nation in der Phase repräsentiert, in der sie ihre moderne historische Identität gewann.« »In diesem Sinne«, so Galls Resümee, »ist fast jeder große Handelnde wie Bismarck ein konservativer Revolutionär gewesen, der der Vergangenheit Tribut zollte, ohne ihr zu verfallen, und mit der Zukunft das Element der eigenen Macht und Freiheit beschwor … Was er wollte, gehörte ganz der Vergangenheit an. Die Mittel aber, die er anwandte, haben auf dem Höhepunkt seines Wirkens den historischen Prozess zeitweise enorm beschleunigt und in stürmischem Tempo das heraufgeführt, was wir abkürzend die moderne Welt nennen. Weitgehend wider Willen ist er an entscheidender Stelle zum Mitschöpfer dieser Welt geworden – hierin liegen seine historische Größe und die Grenze, die ihm gesetzt war.« 81
Diese Aussage trifft nicht nur auf Bismarck zu, sondern auch auf Churchill und de Gaulle. Ein Vergleich Bismarcks mit ihnen könnte somit den einen oder anderen Streitpunkt über den Reichskanzler in ein anderes Licht rücken. Churchill war 1906 das erste Mal in Deutschland, als er an Herbstmanövern in der Nähe von Breslau teilnahm. Ein Foto zeigt ihn an der Seite von Wilhelm II. Churchill hatte zeitlebens einen negativen innenpolitischen »record«. 82 In der Labour Party hält sich bis zum heutigen Tag das Gerücht, er habe als britischer Innenminister 1910 Soldaten den Befehl erteilt, auf streikende Grubenarbeiter in Tonypandy im walisischen Rhondda-Tal zu schießen. Auch bei einem Bahnarbeiterstreik ein Jahr später zog er den Einsatz von Militär in Betracht. Im Jahr 1924, die erste Labour-Regierung zeichnete sich schon ab, sagte Churchill: »The enthronement in office of a Socialist Government will be a national misfortune such as has usually
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