Die blaue Liste
alle Ewigkeit wünschte er diesen
Augenblick zu verlängern.
Irgendwann regte sich Christiane. Die Rückkehr der Erinnerung formte sich in ihrem Gesicht. Hoffentlich erschrickt sie nicht,
wenn sie mich sieht. Aber sie lächelte, als sie die Augen öffnete, und schmiegte sich fester an ihn.
Nun sah er in ihren Augen auch die Erinnerung an den Grund ihrer Reise nach Italien zurückkehren und die ersten Wolken traten
in ihr Gesicht.
Sie legte die Spitze ihres Zeigefingers auf seine Nasenspitze und drehte sie sanft.
»Du bringst mich heute zu meinem Vater«, sagte sie.
Er nickte und wünschte sich, dass sie ihm etwas über die vergangene Nacht sagen würde. Stattdessen warf sie die Decke zurück
und schwang sich mit einem Satz aus dem Bett. Sie lief zum Bad. Denglers Blick folgte ihr.
Als sie später in der Bar unterhalb des Hotels frühstückten, wandelte sich die Stimmung. Christiane bestellte einen Pani-no
mit Käse, aber sie biss nur einmal hinein und legte ihn sofort wieder zur Seite. Dengler hatte ihr seinen Lieblingskaffee
empfohlen, einen doppelten Espresso mit etwas Milch, den sie nun mit schnellen Schlucken trank.
»Lass uns fahren«, sagte Dengler.
Sie nickte. Blass schimmerte ihr Gesicht.
Auf den wenigen Metern zum Saab hakte sie sich rechts bei Dengler unter.
* * *
Während der Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Schließlich bog Dengler vorsichtig in den Feldweg ein. Christiane starrte
steif geradeaus und schluckte, als müsse sie gleich weinen.Sie hatten Glück, das Tor stand offen, als sie ankamen. Dengler fuhr den Saab langsam in den Hof.
Der Innenhof bestand aus einem gepflasterten Weg, der sich vor dem Haus zu einer Wendeplatte weitete. Rechts und links der
Anfahrt sah Dengler zwei Reihen mit Zypressen, die eine schmale Allee bildeten, auf deren rechter Seite der Olivenhain war.
Rechts befand sich zwischen der Baumreihe ein Durchgang, dem sich ein typisch toskanisches Haus anschloss.
Zwanzig Meter vor dem Haus stoppte Dengler den Saab. Er sah die aus Naturstein gemauerten Wände, zwei Stockwerke hoch mit
einem grauen Giebeldach. Die grünen Blätter von wildem Wein rankten sich bis zum obersten Stockwerk und griffen schon nach
den Fensterläden, die in der gleichen Farbe gestrichen waren wie die Ranken.
An das Haus schmiegte sich ein schmalerer Bau an, von dem Dengler bereits wusste, dass es der Schweinestall war. Zwischen
beiden gab es einen überdachten Gang, in dem allerlei Werkzeuge, Heugabeln, Rechen und Spaten sowie ein großer Rasenmäher
standen.
Der Stallung schloss sich eine größere Scheune an, die sogar das Wohnhaus überragte. Auf der linken Seite blühte ein großes
Calendulafeld, das wiederum von dem hohen Buschzaun eingegrenzt wurde.
Im Saab herrschte regungslose Stille. Christiane griff zur Wagentür und zog die Hand sofort wieder weg. Dengler überlegte,
ob er rückwärts wieder aus dem Hof fahren sollte, als sich die Scheunentür öffnete und Paul Stein auf den Hof trat.
Er trug große schwarze Gummistiefel, eine dunkle feste Hose und einen Pullover aus grober blauer Wolle. In der rechten Hand
hielt er eine langstielige Schaufel, an der noch Stroh und Schweinemist klebten. Hier, in dieser Umgebung, sah er gebräunter
und bäuerischer aus als in der Gasse in Sie-na. An diesem Ort wirkte er nicht fremd.Die Sonne schien ihn zu blenden. Er legte den Arm über die Augen, um den fremden Wagen auf seinem Hof besser sehen zu können.
Christiane öffnete schlafwandlerisch die Autotür und stieg aus. Als sie ein paar Schritte gegangen war, ließ Stein plötzlich
das Werkzeug fallen und stieß einen heiseren Schrei aus, der nicht menschlich klang. Beide rannten nun aufeinander zu, und
Christiane rief etwas, das keinen Sinn ergab – dann lagen sich Vater und Tochter in den Armen.
Dengler blieb im Wagen sitzen. Er sah den beiden zu, die sich aus ihrer Umklammerung nicht mehr befreien wollten, und er dachte
daran, wie er diese Frau in der Nacht auf eine ganz andere Art umklammert hatte. Die beiden schienen ihn jedoch nicht zu sehen,
als sie sich endlich voneinander lösten, führte Stein seine Tochter ins Haus. Dengler sah, dass sich das Tor zur Hofeinfahrt
hinter ihm schloss. Er wartete.
* * *
Warten ist das Los des Fahnders. Tagelang in einem Wagen sitzen und auf eine geschlossene Tür starren – so beschrieb er einmal
seinen Alltag, als Hildegard unbedingt etwas über seine Arbeit erfahren wollte. Nein, in einem Auto zu
Weitere Kostenlose Bücher