Die blaue Liste
dem Foto
in seiner Hand. Als Dengler hinzutrat, zitterte sein Freund. Es bestand kein Zweifel: Der junge Trainer an der Wand, mit den
Locken und mit den dunklen Augen, war derselbe Mann wie auf dem Bild in Marios Hand.
Dengler legte seine rechte Hand dem zitternden Freund auf die Schulter und dreht ihn sachte um: An der Rezeptionstand der alte Mann und sah Mario an. Dengler blieb stehen, als die beiden langsam aufeinander zugingen und sich schließlich
in den Armen lagen.
* * *
Es wurde ein langer Nachmittag. Marios Vater kochte, er rief seine Familie zusammen, seine Frau, eine schöne dunkelhaarige
Römerin, und ihren gemeinsamen Sohn, der sich wunderte, plötzlich einen Halbbruder aus Deutschland zu haben. Mario erzählte,
plauderte auf Italienisch und übersetzte es Olga, die neben ihm saß, ins Deutsche. Dengler betrachtete die beiden und zog
sich zurück. Im Schatten eines großen Kastanienbaumes wurde der Kaffee serviert, als Dengler sich von ihnen verabschiedete.
* * *
Die Fahrt nach Mailand dauerte eine Stunde. Der Flughafen Malpensa liegt in einem Gewirr von Fabriken, Straßen, alten und
neuen Lagerhäusern, keine schöne Gegend. Christiane kam pünktlich mit dem Flug um 19:05 Uhr; Dengler stand am Ausgang, als
sie durch die Schwingtür die riesige Flughalle betrat. Ihre Gesichtszüge wirkten streng und konzentriert, und sie unterstrich
diese Strenge durch den hellbraunen, klassisch geschnittenen Leinenanzug noch mehr. Sie sprachen nicht miteinander, als er
sie zum Saab brachte, und auch unterwegs wollte keiner das erste Wort sagen.
»Können Sie sich das Ganze erklären?«, unterbrach sie das Schweigen schließlich.
»Nein.« Dann berichtete er von dem Grundstück, von seinem Einbruch, von der Betäubung der Hunde mit Heroin, und von der Schweinezuchtanlage.»Wahrscheinlich Öko-Schweine«, sagte er.
Sie schüttelte verwundert den Kopf.
Von seinen Nachforschungen in Bezug auf die Blaue Liste sagte er nichts. Aber er würde Paul Stein danach fragen.
Um Viertel nach eins erreichten sie Siena. Der Nachtportier stand bereits hinter dem Tresen der Rezeption.
»Wir brauchen noch ein Zimmer für die Lady«, sagte Georg.
»Wir sind leider ausgebucht.«
»Gibt es irgendwo anders noch freie Zimmer in der Stadt?«
»Ich werde telefonieren.«
»Reservieren Sie ein freies Zimmer für mich«, sagte sie und zu Dengler gewandt: »Lassen Sie uns fahren!«
Dengler sah sie an.
»Sie wollen jetzt noch zu dem Hof Ihres Vaters?«
Sie nickte. Dengler bat sie, sich einen Augenblick in dem Vorraum zu setzen, er nahm ihren Koffer und ihre Reisetasche und
brachte beide nach oben in sein Zimmer.
Er fand ihre Idee absurd, es war Nacht, aber sie war seine Auftraggeberin, und ihren Wunsch, den Vater so schnell wie möglich
zu sehen, konnte er gut verstehen.
Er winkte ihr zu, als er wieder aus dem Aufzug neben der Rezeption trat. Sie stand auf und folgte ihm zu dem Wagen, den er
neben der Hotelauffahrt geparkt hatte.
Dengler startete den Saab. Der Motor schnurrte und ließ den schweren Wagen sanft die Auffahrt hinabgleiten. Sie bogen rechts
ab, um wenig später die große Straße zu erreichen, die nach Grosseto führt.
Sie bemerkten den Alfa Romeo nicht, der sich hinter ihnen von der gegenüberliegenden Straßenseite löste und ihnen folgte.
Dengler schwieg. Schweigen – das kann ich am besten, dachte er bitter. Warum kann ich nicht charmant plaudern – das würde
Christiane jetzt helfen, zumindest ablenken.
Aber mal wieder fiel ihm nichts ein.
Er sah zu ihr hinüber. Sie starrte geradeaus. Sie sah müde aus.Sie wappnet sich, dachte Dengler, sie wappnet sich gegen die Überraschung, die uns nun bevorsteht.
Hinter dem Anstieg der Straße fuhr er in den Feldweg. Diesmal ließ er die Scheinwerfer an und fuhr vorsichtig weiter.
Der Alfa Romeo wartete einen Augenblick und schaltete die Scheinwerfer aus, bevor er ebenfalls in den schmalen Weg einbog.
Im Innern saßen drei Männer. Der Mann auf der Rückbank, ein durchtrainiert wirkender Fünfzigjähriger mit fahlgelbem Bürstenhaarschnitt,
reichte dem Fahrer ein olivfarbenes Nachtsichtgerät. Der stülpte es über den Kopf und justierte die Gläser, bis er den Feldweg
deutlich vor sich sah. Dann gab er Gas und fuhr weiter, ohne das Licht wieder einzuschalten. Hundert Meter vor der Einfahrt
zu Steins Haus hielt Dengler und schaltete das Standlicht ein. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.
Weitere Kostenlose Bücher