Die blaue Liste
Georg Dengler war allein in dem großen Raum.
My whole life has been one big fight
Born under a bad sign
I been down since I begin to crawl
If it wasn't for bad luck, I wouldn't have no luck at all
Müde stand er auf. Der Vorraum war leer. Er verzichtete auf den Aufzug und ging zu Fuß die Treppen hinunter. Albert Kings
Rhythmus begleitete ihn bis zu der Glastür im Foyer.
Als er auf der Straße stand, wehte ein milder Frühlingswind. Bald würden Flieder und Weißdorn blühen.
Sein Handy läutete.
Es war Jakob.
»Gehen wir bald wieder in die Wilhelma?«»Sicher. So oft du willst.«
Sie verabredeten sich für den übernächsten Tag, und Dengler trennte das Gespräch.
Ich muss meine Mutter anrufen, dachte er.
Dann wählte er Christianes Nummer.
[ Menü ]
Nachwort
Finden und Erfinden
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion, auch wenn sich Fiktion und Wirklichkeit in der »Blauen Liste« tief ineinander verschränken.
Die Figuren, mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte, sind erfunden. Sofern die Personen der Zeitgeschichte in meinem
Buch handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch das erfunden.
Der Plot hat jedoch mich gefunden, und die Geschichte dieses Buches beginnt mit dem Besuch von Paul Merker (er bat mich, seinen
Namen zu ändern) und mit einer durchzechten Nacht irgendwann im Sommer 2000. Er erzählte mir eine unglaubliche Story.
Paul ist ein außergewöhnlicher Typ. Er ist Österreicher, Publizist, ehemaliger Priester und der einzige Mensch, den ich kenne,
der trotz einer streng katholischen Sozialisation seinen Gottesglauben nicht verloren hat. Über ihn kann ich ruhigen Gewissens
das Gleiche sagen, was Thomas Mann über seinen Serenus Zeitblom schrieb: Seine katholische Herkunft modelte und beeinflusste
selbstverständlich seinen »inneren Menschen«, ohne dass dies jedoch in Widerspruch zu seiner humanistischen Weltanschauung
geriet.
In jener Nacht – Gabrielle war schon lange zu Bett gegangen – erzählte er von einer Reportage, in der er über das Gerätewerk
Matrei berichtete. Er hatte sich schon lange für die Produktivgenossenschaft am Brenner begeistert. Im Rahmen seiner Recherchen
lernte er einen Professor der Universität Innsbruck kennen, der einige wissenschaftliche Arbeiten über das Werk geschrieben
hatte und der in dieser kleinen österreichischen Fabrik die Verwirklichung der katholischen Soziallehre sah, die Einheit von
Arbeit und Kapital.
Die beiden lernten sich näher kennen, und Paul folgte einigen Einladungen, die der Professor zu unterschiedlichen Themen abhielt.
1990 – das Jahr des Umbruches in Deutschland: Selbstverständlich fragte Paul den Professor irgendwann, ob er denn nicht auch
glaube, das Modell Matrei könne der deutschen Wiedervereinigung einguter Pate sein. Ja, dieser Ansicht sei er auch, antwortete der Professor, besonders in wirtschaftlich schwierigen Situationen
seien Produktivgenossenschaften ein richtiger »dritter Weg«. Er nahm Paul beiseite und sagte ihm, er verfolge diesen Weg bereits
und er habe seine Leute auch schon in der Treuhand untergebracht.
Wenige Monate später war er tot – abgestürzt in jener schlimmen Nacht über Thailands Dschungel.
Diese Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen.
Der Professor, einer der bedeutendsten österreichischen Volkswirtschaftler, hielt jährlich sechzig und mehr Vorträge zu Wirtschaftsthemen,
die meisten davon in Deutschland. Er kannte die gesamte deutsche Wirtschaftselite und natürlich auch das Management der Treuhand
und deren Präsidenten. Über was werden sich die beiden Männer unterhalten haben? Spielte das Modell Matrei eine Rolle?
Die Figur Paul Stein entspringt aus der Bemerkung, der Professor habe »seine Leute schon in der Treuhand untergebracht« –
er ist einer davon.
* * *
Detlef Carsten Rohwedder lernte ich bei einer Veranstaltung der Nixdorf Computer AG auf der CeBit in Hannover kennen. Er war
damals, soweit ich mich erinnere, noch Chef von Hösch. Im Gegensatz zu seinen Mitdiskutanten auf dem Podium war er witzig,
sehr wach, schlagfertig und trotz seines schweren Jobs spürbar sozial engagiert. Es ist meine feste Überzeugung: Die deutsche
Vereinigung hätte einen anderen, besseren Verlauf genommen, wenn er länger im Amt geblieben wäre.
Das Attentat auf ihn ist bis heute nicht aufgeklärt. Die Tatwaffe war ein militärisches Präzisionsgewehr, das vorher von RAF-Attentätern
nicht verwendet worden war. Der erste Schuss
Weitere Kostenlose Bücher