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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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versteckte seinen Schmerz, damit sie es nicht noch schwerer hatte. Doch
     verborgen in einer
    unzugänglichen Ecke des Heuschobers weinte er heimlich, nicht nur aus Trauer um die verlorenen Tiere, sondern auch aus Angst,
     was aus ihm würde, wenn die letzte Kuh vom Hof verschwand.
    Mit Mario entwickelte er die unterschiedlichsten Pläne zur Rückeroberung der Kühe. Einmal wollten sie nachts in den Hof des
     Birklerbauern einbrechen. Sie planten, die Kühe seiner Mutter zu holen, um sie auf den Feldberg zu bringen, wo sich die beiden
     Freunde von Milch und Heidelbeeren ernähren wollten. Der Plan scheiterte, weil Mario in der Nacht verschlief. Georg wartete
     zwei Stunden lang vergeblich auf ihn, allein in der Kälte vor dem Hoftor des Birklerbauern.
    Lieber Jesus im Himmel,
    bitte mach, dass wir nicht noch mehr Kühe verkaufen müssen,
    sorge dafür, dass wir unsere Kühe behalten und sie nicht zum
    Schluss alle dem Birklerbauern gehören.
    Amen
    Kindliche Gespräche über Religion.
    Mit Mario.
    Nicht nur über die verschwundenen Kühe. Warum muss Abraham für den lieben Gott seinen Sohn erschlagen?
    Weil er so zeigen will, dass er den lieben Gott ganz lieb hat. Aber der will seinen Sohn gar nicht erschlagen, der liebe Gott
     muss ja erst böse werden, bevor er's macht. Warum verlangte der liebe Gott so was, grübelte Mario.
    Grübelte Georg.
    Man kann den Willen Gottes nicht verstehen, als kleiner Mensch nicht, und als kleiner Bub erst recht nicht, sagte der Pfarrer.
    Aber wenn der Gott doch nur immer das Beste will für die Menschen – so Mario.
    Stell dir mal vor, du wärst der Sohn vom Abraham. Gilt für den Sohn die Liebe Jesus' nicht? Denk mal nach: Du und ich, wir
     wären es doch, die geschlachtet würden.
    Theologische Konfusionen.
    Mir leuchtet auch nicht ein, dass der Gott die ganzeWelt ersoffen hat mit der Sintflut, sagte Mario.
    Weil die Menschen ihn nicht genug angebetet haben, erinnerte sich Georg.
    Aber kann man sie deshalb ersäufen? Und was ist mit den Kindern und den Tieren?
    Den Kühen zum Beispiel.
    Später schlug Mario vor, die Tiere zurückzukaufen. Das Geld wollten sie von den merkwürdigen Kurgästen nehmen, die immer in
     der Bahnhofskneipe saßen. Auf halber Höhe des Berges, nahe der Straße nach Bärental, lag das Kurhotel der Knappschaftskasse.
     Viele Bergleute aus dem Ruhrgebiet wurden damals in die gesunde Luft des Südschwarzwaldes geschickt, damit sie sich hier einige
     Wochen einer Kur unterzogen. Zum Erstaunen des ganzen Dorfes verließen diese Männer jeden Mittag ihr Hotel (vormittags mussten
     sie Anwendungen durchführen, Dengler beobachtete sie beim Wassertreten, wobei sie laut fluchten). Sie zogen in einer langen
     schwarzen Prozession nach Altglashütten und besetzten die Bahnhofskneipe. Nach einer halben Stunde hingen so schwere Rauchwolken
     im Lokal, dass die beiden Buben sich nur hustend durch den Raum bewegen konnten. Die Bergleute rauchten, tranken riesige Mengen
     Bier und Schnaps, spielten Karten um Geld, und um fünf Uhr standen sie auf und torkelten durch die gesunde Schwarzwälder Luft
     zurück ins Sanatorium, um sich am nächsten Tag wieder im Bahnhofslokal zu betrinken.
    Mario beobachtete, wie drei von ihnen um Geld wetteten, ob zwei Mädchen, die mit Kreide einige Quadrate auf das Pflaster vor
     dem Bahnhof gemalt hatten, auf einem Bein die Quadrate rauf- und runterhüpfen konnten. Am nächsten Tag
    malte Mario ebenfalls einige Quadrate auf den Bahnhofsvorplatz, aber keiner der Bergleute wollte auch nur einen Groschen auf
     seine Hüpfkünste verwetten.
    Schließlich kam Georg die zündende Idee, das Ganze mit einer Kuh aus dem Stall seiner Mutter aufzuführen. Mit Mist aus einer
     Schubkarre unterteilten sie das kleine Stückchen Wiese hinter dem Bahnhof in gleich große Quadrate und führten eine Kuh vom
     Dengler-Hof hinein. Dann rannten sie zu den Bergleuten und boten ihnen Wetten an. Jeder von ihnen könne fünf Pfennig oder
     einen Groschen auf ein Quadrat setzen. Gewinner sei derjenige, auf dessen Quadrat die Kuh den ersten Fladen ließ. Die Männer
     lachten, aber dann stand der erste auf, sein Kumpel folgte, und nach fünf Minuten standen alle Bergleute um die Kuh herum,
     setzten Geld, rauchten, lachten und warteten, dass die Kuh endlich den Schwanz hob.
    Von jedem Groschen behielten sie einen Pfennig, und als Georg seinen Anteil der Mutter brachte, nahm sie ihn zum ersten Mal
     seit dem Tod des Vaters in die Arme, und er nahm sich erneut fest

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