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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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rannte weiter und dachte nicht mehr an die zweite Luke.
    Allein die Mutter beugte sich an jenem Abend über sein Bett, ganz dunkel wurde es über ihm und ihre Tränen trafen ihn wie
     Steine. Sie schmeckten bitter, er mochte das nicht, und später schämte er sich, weil er es nicht gemocht hatte.
    Er schämte sich noch auf der Beerdigung. Er saß mit der Mutter in der ersten Reihe. Auf der Frauenseite. Er wollte nicht hier
     sein. Er spürte den harten Druck, weil die Mutter seine Hand nicht losließ. Er spürte Schmerz, aber nur in der Hand. Irgendwann
     zog sie ihn aus der Bank, und er stolperte. Gegen den Marienaltar im Seitenschiff der Kirche. Die
    Madonna mit dem blauen Mantel wankte, und er griff nach ihr mit der linken Hand. Doch die Mutter zog ihn weiter. So hielt
     er die Madonna fest umklammert in seiner Linken. Er schob sie unter seinen Sonntagsmantel, quetschte sie unter den Hosengürtel,
     wo sie ihn den ganzen Tag drückte, bis er sie am Abend hervorzog und in der großen weißen Kiste versteckte, direkt unter dem
     Märklin-Baukasten.
    In der gleichen Nacht schlich er durch den dunklen, nach Kühen riechenden Flur bis zur Küchentür und wartete unschlüssig,
     ob er zu seiner Mutter und ihren drei Schwestern in die Küche gehen sollte. An ihren Stimmen hörte er, dass sie Wein getrunken
     und viel geweint hatten, und dann hörte er seine Mutter sagen, sie wolle das Kind nicht mehr sehen – für eine Weile. In diesen
     Sekunden wurde seine Seele für immer verletzt. Er schlich ins Bett zurück und konnte immer noch nicht weinen, er fühlte sich
     leer, und er fühlte sich schuldig an allem, was über die Familie gekommen war, am Tod des Vaters, am Unglück der Mutter und,
     vielleicht am schlimmsten, dass er darüber nicht weinen konnte. Diese dreifache Schuld spürte er noch heute. Damals erinnerte
     er sich an die Madonna unter dem Märklin-Baukasten – und er beschloss, sie nie mehr herzugeben.
    Schmerz und Scham setzten unvermittelt mit der Erinnerung ein, so frisch und unvermittelt wie damals. Dengler nahm schnell
     einen neuen Ordner zur Hand und blätterte in Greschbachs Zeugnissen des Kepler-Gymnasiums. Er schien ein Musterschüler gewesen
     zu sein, Einser, Zweier, nur in Physik eine Vier.
    Georg dachte an seine eigene Schulzeit: Der alte Lehrer Scharach unterrichtete alle Kinder Altglashüttens in einem einzigen
     Raum im Rathaus, die oberen Klassen vormittags und die Schüler bis zur vierten Klasse nachmittags. Später wurde eine neue
     Schule mit zwei Klassenzimmern gebaut, was einige im Ort für unnötigen Luxus hielten. Georg erinnerte sich an den Stolz, mit
     dem er sich in die eigene
    Schulbank setzte, die nun kein anderer Schüler vormittags benutzte.
    Dengler überlegte, ob Greschbach als Kind sich wohl jemals Sorgen um die Existenz seiner Eltern machen musste. Wahrscheinlich
     nicht. Sein Vater war Professor für mittelalterliche Geschichte an der Freiburger Universität und galt dort, so eine Stellungsnahme
     des Dekanats der Uni, die er in den Akten fand, als herausragender Wissenschaftler auf diesem Gebiet.
    Als Denglers Vater starb, standen zwanzig Rinder im Stall. Seine Lieblingskuh war die verrückte Freya gewesen. Sie war hellbraun
     wie alle anderen, aber sie trug ein verkümmertes Horn, Dengler erinnerte sich nicht mehr, ob auf der rechten oder der linken
     Seite. Wenn Freya nach einem langen Winter zum ersten Mal ins Freie kam, lief sie in Bocksprüngen durch das Dorf, keilte nach
     hinten aus wie ein Pferd, blieb plötzlich stehen, schüttelte sich wie ein nasser Hund und rannte dann in Galoppsprüngen weiter.
     Georg konnte sie gut verstehen; er stellte sich oft vor, welch ein Gefühl es sei, den ganzen Winter angebunden im dunklen
     Stall zu stehen. Doch die Bauern schüttelten den Kopf – wilde Kühe geben wenig Milch.
    Eines Abends kam Freya nicht mit den anderen Rindern von der Gemeindewiese zurück. Dengler erinnerte sich noch, wie er aufgeregt
     zur Mutter lief: Die Freya fehlt! Wie sie ihn ernst ansah und ihm sagte, dass sie Freya hatte verkaufen müssen. Wie er geheult
     hatte. Wie er sich schämte, als er zwei Tage später Freya auf der Wiese des Birklerbauern stehen sah. Wie die Last seiner
     Schuld größer wurde – nun noch um den Verlust der verrückten Kuh Freya.
    Von da an verschwand immer wieder eine Kuh aus dem Stall und tauchte beim Birklerbauern oder auf dem Hof eines anderen Landwirts
     wieder auf. Die Mutter seufzte immer öfter, und Georg

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