Die blaue Liste
vor, die verlorenen Kühe zurückzuholen. »Was willst du später
einmal werden?«, fragte er Mario am nächsten Tag.
»Millionär«, sagte der sofort, »und du?«
»Polizist.«
* * *
Aber warum sprengt jemand, der all diese Nöte nicht kennt, andere Menschen in die Luft? Wo lag die Bruchstelle? Einer plötzlichen
Eingebung folgend, rief er Bernd Fuchs an, der als Schlagzeuger in Greschbachs früherer Band gespielt hatte. Da Fuchs sich
schon früher geweigert hatte, der Polizei Auskünfte zu geben, brauchte Dengler eine Legende. »Guten Tag, mein Name ist Herbert
Gübler, ich recherchiere
für das Musikmagazin Rolling Stone über den Zusammenhang von Anarchismus und Musik.«
»Mmh, was kann ich dazu beitragen?«
»Sie haben doch mit Roman Greschbach zusammen in einer Band gespielt. Ich interessiere mich dafür, was für eine Art von Musiker
Greschbach ist.«
»Wissen Sie, wir von der Band, von der ehemaligen Band, also wir haben eigentlich beschlossen – also wir wollen grundsätzlich
keine Aussagen zu Roman machen – wir wurden so schon genug von den Bull ... ich meine, von der Polizei unter Druck gesetzt.«
»Mir geht es ja auch nicht um das politische Ding, uns geht es um den Musiker – wie der so drauf war.«
»Na ja, eigentlich wollen wir dazu grundsätzlich gar nichts sagen. Das haben uns auch die Anwälte geraten.«
»O.K., das akzeptiere ich natürlich. Gibt es die Band noch?«
»Nein, schon lange nicht mehr. Wir haben ohne Roman eine Weile weitergemacht, aber als er überall gesucht wurde, wollte uns
niemand mehr spielen lassen. Da haben wir uns aufgelöst, und jetzt macht keiner von uns mehr Musik – sind alle bürgerlich
geworden.«
»Wie hieß denn eure Band?«
»Wir nannten uns The Scratch. Waren nicht mal schlecht. Kein Fall für den Rolling Stone – aber in Freiburg kannte man uns. Beim Wettbewerb im Haus der Jugend machten wir den zweiten Platz. Direkt hinter Sound Edge
– die sind hier in der Gegend die große Nummer.«
Dengler atmete durch und fragte dann: »Und Roman, was spielte der?«
»Der war unser Gitarrist – spielte Leadgitarre. Noch nicht mal schlecht.«
»Und was für ein Repertoire hattet ihr drauf?«
»Am Anfang spielten wir so die Rock-Klassiker, Stones, Cream, Animals, das populäre Zeug eben. Dann merkten wir, die spielten
selber nur nach.«
»Wie das?«
»Roman merkte es als Erster. Als Komponisten waren auf deren Platten immer die gleichen Namen angegeben: Willie Dixon, Robert
Johnson, Muddy Waters oder Jimmy Reed. Erst dachten wir, das seien Typen, die für alle englischen Bands Lieder schrieben,
bis Roman Platten von denen anschleppte und wir merkten, das waren selber Musiker. Deren Zeug spielten die großen Bands nur
nach. Dann machten wir das auch so und hatten Erfolg damit – zumindest im Haus der Jugend.«
»Waren Romans Eltern eigentlich einverstanden, dass er in eurer Band mitspielte?«
Dengler hörte ein verhaltenes Lachen am anderen Ende der Leitung. »Nein, sein Alter wollte unbedingt, dass er Cello lernte
– wie er selber. Sein Alter stand damals auf Klassik. Heute sitzt er im Vorstand des Jazzhauses. Roman schwänzte den Cellokurs,
um mit uns zu üben. Später hatte er riesigen Streit mit seinen Alten – deshalb. Er ist sogar mal abgehauen und hat sich zwei
Tage bei mir versteckt.«
»Und für diese Musiker schwärmte er?«
»Robert Johnson, Willie Dixon, Muddy Waters und so? Ja, wir haben nichts anderes mehr gespielt – bis er zu den Politischen
überlief und dann aus der Band abhaute.«
»Na ja«, sagte Dengler, »das gibt für einen Artikel wirklich nicht viel her. Trotzdem: Danke fürs Gespräch.«
»Macht ja nichts«, sagte Bernd Fuchs und legte auf.
Es waren zwei Anrufe beim Zentralarchiv nötig, um zu erfahren, dass die musikalischen Vorbilder Greschbachs nicht mehr lebten.
Eine blinde Spur. Dengler notierte sich die Namen, und fast hätte er die Sache vergessen.
Erst ein Jahr später las er in der Frankfurter Rundschau von dem bevorstehenden Konzert Eric Claptons in der Londoner Albert Hall. »Muddy Waters' alte Kämpfer und sein bester Schüler«, lautete die Überschrift. Clapton, der jährlich einmal ein Konzert in der ehrwürdigen Albert Hall gab, lud in
diesem Jahr einige der noch lebenden Musiker aus Waters' Band zu einem gemeinsamen Auftritt ein. In einer Woche sollte das
Konzert stattfinden.
Noch am selben Tag reichte Dengler bei Dr. Schweikert einen Dienstreiseantrag ein.
*
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