Die blaue Liste
* *
Die Royal Albert Hall wirkte auf Dengler wie ein königliches Schloss. Er nahm die Picadilly Line vom Terminal 4 des Flughafens
Heathrow und stieg am Hyde Park aus, so wie es ihm die Abteilungssekretärin aufgeschrieben hatte. Dann durchquerte er den
Park und stand plötzlich vor dem runden Bau, der wie ein Palast funkelte.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brachen sich in der gläsernen Kuppel und tauchten den roten Stein mit den sandfarbenen
Einfassungen, mit den beiden übereinander liegenden Fensterfronten in ein goldenes Licht. Ein Balkon umfasste das Gebäude
auf halber Höhe, gesichert durch reliefartige Figuren, die sich wie ein Band unterhalb der Kuppel um das Bauwerk legten.
Dengler erwartete, dass sechsspännige Kutschen mit kostümierten Adeligen vorfuhren, aber es stand nur ein roter Doppeldeckerbus
mit laufendem Motor vor dem Eingangsportal. Die Menschen, die in das Gebäude strömten, wirkten fremd vor der aristokratischen
Architektur. Das Auge würde sich nicht über Herren im Abendanzug und Frauen mit Hüten und Cocktailkleidern empören, aber das
gemischte Völkchen, das nun durch die Portale drang, sah das ehrwürdige Haus wohl selten. Eine Gruppe von Hippies in wallenden
und bunt bedruckten Kleidern, bereits mit Altersflecken im Gesicht, pilgerte neben ihm zum Eingang, gefolgt von einigen schicken
Jungs in dunkelblauen Zweireihern, die wohl in der Londoner Finanzwelt arbeiteten.
Dengler war früh genug erschienen, um als erster Besucher durch die großen Flügeltüren eingelassen zu werden. Er blieb im
Vorraum stehen und lehnte sich an einen großen Säulenbogen. Nun konnte er die Hereinströmenden beobachten.
Greschbach sah er nicht.
Als einer der Letzten betrat Dengler den Innenraum und hastete durch einen breiten Gang zu seinem Platz in der dreizehnten
Reihe. Sein Blick suchte die Sitze nach Greschbach ab, aber er war nicht da. Mal wieder eine blinde Spur, dachte er und setzte
sich.
Rechts neben ihm hockte ein dicker Brite in einer speckigen Lederjacke, mit einem über das Kinn hängenden Schnauzbart, der
ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Walross gab. Er trug enge Jeans, und eine Bierwampe dehnte sich über einen breiten,
schwarzen Ledergürtel. Mit der rechten Faust klopfte er einen nicht definierbaren Takt zu einer Musik, die niemand außer ihm
hörte. Links neben ihn setzte sich eine groß gewachsene Blondine mit von unbekannten Exzessen geprägten Gesichtszügen. Tiefe
Falten zogen sich um ihre Mundwinkel und zerwühlten ihre Stirn. Sie trug ein schwarzes langes Kleid, aus dem zwei dünne Füße
mit geschnürten Sandalen ragten.
Die Bühne lag noch im Dunkeln, nur einige rote Lichter der Verstärker leuchteten herüber. Das Publikum war bester Laune, die
Leute quatschten, lachten, hier und da kreiste eine Bierflasche, und Dengler schnupperte das Aroma von starkem Gras, das bald
schwadenweise durch den Saal waberte. Er setze sich in seinem Sessel zurecht und streckte die Beine aus. Der Typ zu seiner
Rechten öffnete eine neue Bierflasche, nahm einen Schluck und rülpste. Dann knuffte er Dengler an den Oberarm und hielt ihm
freundlich grinsend die Flasche hin. Was soll's, dachte er, wenn die Reise ohne Festnahme endet, wollte er wenigstens das
Konzert genießen. Er griff die Flasche am Hals und trank einen Schluck. Gott, das
Bier war lauwarm! Gerne hätte er es gleich wieder ausgespuckt, aber das ging in dieser königlichen Halle wohl kaum, also schluckte
er es hinunter.
Nun verglommen die Lichter im Saal langsam, die Leute wurden leiser und schließlich völlig still. Als das Rund völlig dunkel
und im Saal kein Laut mehr zu hören war, klang von der Bühne ein einzelner hoher Laut herüber, dann ein Schlagzeugintro, blaues
Licht füllte die Bühne, und Dengler sah einen schwarzen, gelockten Musiker, der eine merkwürdige Gitarre im Arm hielt, schwarz
lackiert, mit weißen Punkten verziert.
Der Typ rechts von ihm stieß ihn begeistert in die Seite. Dengler dachte, er wollte ihm erneut einen Schluck seines lauwarmen
Bieres anbieten, aber stattdessen wies er mit der Flasche begeistert auf die Bühne.
»Stratocaster«, schrie er ihm ins Ohr, »a brandnew Fender Stratocaster!«
Dengler nickt und begreift: Es geht um die Typenbezeichnung der Gitarre.
Der Gitarrist erzeugt bislang nur diesen einen Ton, den er endlos reitet. Die rechte Hand liegt mit dem Plektrum auf der untersten
Saite, die linke Hand lässt nun
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