Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
Vom Netzwerk:
weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst. 223
     Leichen oder die Reste davon – über ein Gebiet von fünf Quadratkilometern zerstreut. Im Dschungel. Keine Gegend wie hier in
     unserem kultivierten Taunus. Da leben Tiere, große Tiere und kleine Tiere. Für die war das wie eine unverhoffte Eiweißspeisung.«
    Er schwieg. Dengler hörte seinen Beinahe-Freund am anderen Ende der Leitung schwer atmen.
    »Und überall lagen Sachen aus dem Flugzeug. Ich wurde von einem Offizier der thailändischen Armee zum Absturzort gebracht,
     in einem Jeep holperten wir über unbefestigte Fußwege, erst Reisfelder, dann wurde die Gegend hügeliger, und es gab keine
     Felder mehr, nur noch Dschungel. Zuerst sahen wir kleine Sachen, fingergroße Blechteile, aber auch Löffel oder Messer, Cateringsachen,
     oder einzelne Sitzpolster; und je näher wir der eigentlichen Absturzstelle kamen, desto größer wurden die Teile, die am Boden
     lagen, wir fanden Container, verbogene Armlehnen, Blechteile. Dann kamen wir zu dem Heck des Flugzeugs, zertrümmert, und überall
     waren schon Presseteams, Fernsehen, Blitzlichter. Plötzlich sah ich einen eleganten, hochhackigen Damenschuh, aus dem Knochen
     und abgerissenes Fleisch ragten. Man führte michherum, und ich stolperte über etwas Weiches und fuhr herum. Es war die Leiche eines Passagiers, einer Frau, ohne Arme und
     Beine. Weißt du, wie Leichengeruch riecht?«
    »Ja.«
    »Süßlich. Dieser Geruch waberte überall herum. Und dann waren da die Bewohner der umliegenden Orte, Frauen und Kinder, zu
     Hunderten, Georg, sie kamen und zogen durch die Gegend und nahmen alles mit, was sie brauchen konnten: Uhren, Ringe, Kleider,
     Schuhe, ich sah einige Jungs, die auf Bäume kletterten, diese Leute verbreiteten eine merkwürdige Stimmung, eine gedämpft
     fröhliche Atmosphäre, plauderten, und überall, wirklich überall streiften sie herum und sammelten irgendwelche Dinge ein,
     während die thailändischen Soldaten und Helfer Leichen aus dem Gebüsch bargen, mit unzureichenden Hilfsmitteln, am Anfang
     mit bloßen Händen.«
    »Und dann Bangkok«, fuhr Engel fort, »die thailändischen Behörden waren natürlich nicht auf eine solche Situation vorbereitet.
     Es gab keine Möglichkeit, die Leichen zu kühlen. Nach vier Tagen war unsere Kommission vollzählig. Es waren drei zusätzliche
     Dentisten dabei. Die kotzten den ganzen Tag. Es war die Hölle, glaub mir.«
    »Wie habt ihr die Leichen identifiziert?«
    »Nun, das übliche Handwerk. Wichtig sind die Fingerabdrücke, soweit das möglich ist. Zahnstatus. Personenbeschreibungen, die
     wir miteinander vergleichen, Fotos, wenn vorhanden und dann Knochenuntersuchungen, um Altersund Geschlechtsbestimmungen vorzunehmen.«
    »Keine DNA-Analysen?«
    »Nein, konnten wir 1991 noch nicht machen. Gab's erst in den Anfängen. Viel zu aufwendig.«
    »Und ihr habt alle Leichen eindeutig identifiziert?«
    »Nein, 27 Leichen konnten wir nicht mehr identifizieren. Drei Monate haben die Kommandos geschuftet. Es hat gedauert, aber
     wir hatten die Passagierliste. Wir wussten, werin der Maschine saß. Wir mussten die Leichen und die Leichenteile zuordnen.«
    »Ihr fandet genauso viele Tote wie Passagiere?«
    »Ja.«
    »Jürgen«, Dengler zögerte einen Augenblick, »könnte es sein, dass einer der Passagiere jemand anders war als der, der auf
     der Passagierliste stand, irgendeiner?«
    Der Mann am anderen Ende der Leitung schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Georg, du bist nicht mehr bei der Firma, oder?«
    »Nein, ich bin selbstständig.«
    »Und gebe ich jetzt gerade eine dienstliche Erklärung ab?«
    »Nein, das tust du nicht. Dieses Gespräch bleibt unter uns.« Engel schwieg.
    Er sagte dann: »Wir haben unseren Job gemacht, so gut wir konnten. Es war der schwierigste meines Lebens.«
    Er schwieg.
    Dengler auch.
    »Die Möglichkeit, die du gerade genannt hast, war für uns nicht relevant. Es ist unwahrscheinlich – aber ich kann es nicht
     ausschließen.«
    »Erinnerst du dich an einen Passagier namens Paul Stein? Weißt du noch, ob man ihn zweifelsfrei identifizieren konnte?«
    »An den Namen erinnere ich mich noch. Dunkel. Aber ich weiß nicht mehr, wie ..«, er zögerte eine Weile, »... wie er ausgesehen
     hat.«
    »Ich danke dir.«
    »Saß ein falscher Mann in der Maschine?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht.«
    »Sag mir Bescheid, wenn du etwas weißt.«
    »Sicher«, sagte Dengler und legte auf.
    Es war zwanzig nach acht.

[ Menü

Weitere Kostenlose Bücher