Die blaue Liste
Seite für Seite zu blättern, sondern es gab
eine bequeme Suchmaschine, in der er das Jahr eingeben konnte und auch den Ort oder das Land, von dem er die Vermisstenanzeigen
sehen wollte. Er tippte »1991« ein und »Bangkok«, und sein Rechner listete ihm acht vermisste Personen auf, darunter jedoch
nur zwei Europäer, ein Spanier und ein Brite, der erste 18 und der zweite 32 Jahre alt. Kein Deutscher oder Österreicher.
Er klickte sich zurück zur Eingabemaske und tippte »1991« und »Thailand« ein. Jetzt meldete ihm das Internationale Rote Kreuz
35 vermisste Personen, darunter neun Europäer. Dengler lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Uhr zeigte schon halb neun,
und dieser Tag schien nicht hell zu werden. Schwere schwarze Wolken hingen über der Stadt und entließen Schwaden kalter Feuchtigkeit,
die die Menschen frösteln ließen. Sie vermummten sich und wappneten sich innerlich gegen die gebrochenen Versprechen des Frühlings.
Dengler sah zum Fenster hinaus auf das feuchte Pflaster der Straße und dachte nach. War er nun klüger? Er nahm die beiden
Blätter und las seine Aufzeichnungen.
War Paul Stein in dem Flugzeug?
Er fügte eine weitere Möglichkeit hinzu:
Es war jemand anderes in der Maschine?
Könnte Paul Stein sein Ticket an jemanden abgegeben haben?
Er müsste mehr über Paul Stein erfahren.
In diesem Augenblick klingelt das Telefon.
»Hier spricht Christiane Stein«, sagte eine selbstbewusste weibliche Stimme.
»Guten Morgen«, sagte Dengler, »ich arbeite gerade an dem Fall Ihres Vaters.«
»Es gibt keinen Fall meines Vaters. Wir ziehen unseren Auftrag zurück und möchten die 2000 Euro zurück.«
»Ich habe den Auftrag von Ihrem Freund und nicht von Ihnen.«
»So, hat er irgendwas unterschrieben?« Ihre Stimme klang kühl und klar.
»Nein«, sagte Dengler, »aber eine mündliche Vereinbarung gilt genauso wie eine schriftliche.«
»Haben Sie einen Zeugen dafür, dass es eine mündliche Vereinbarung gibt?«, fragte die Frau.
»Nein.«
»Sehen Sie, es gibt keinen Auftrag. Ich komme jetzt zu Ihnen und hole das Geld wieder ab. Wo ist Ihr Büro?«
»Kennen Sie das Basta in der Wagnerstraße?«
»Klar.«
»Dort bin ich in einer halben Stunde.«
»Fein«, sagte die Frau, »vergessen Sie das Geld nicht.«
»Hatte die Maschine in Bangkok Verspätung?«
»Bitte?«
»Die Frage ist doch nicht so schwer zu verstehen: Ihr Freund sagte mir, dass Sie alle Informationen über den Absturz gesammelt
haben. Es wäre wichtig zu wissen, ob die Boeing mit Verspätung aus Bangkok abflog.«
»Das weiß ich nicht. Warum soll das wichtig sein?«
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte Dengler. Er kratzte sich am Kinn, und dabei fiel ihm auf, dass er sich noch nicht rasiert
hatte.
Er sagte: »Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren, wie hoch diese Möglichkeit einzuschätzen ist, aber es könnte jemand anderes
in der Maschine gesessen haben.«
»Ich komme sofort«, sagte die Frau und hängte auf.
Dengler ging ins Bad. Er nahm seinen alten Philishave, dessen Klingen er längst hätte erneuern müssen, dennneuerdings rissen sie ihm eher die Barthaare heraus, als dass sie sie abschnitten, und fuhr sich mit dem alten Gerät vorsichtig
die rechte Wange entlang.
Wollte er den Auftrag wieder abgeben? Dies war sein erster Fall, er versprach interessanter zu werden, als er ursprünglich
angenommen hatte. Mittlerweile interessiert es mich, ob dieser Typ in dem Flugzeug gesessen hat oder nicht. Wahrscheinlich
ist die Lösung ganz banal, der Kerl kam zu spät, und das Flugzeug flog auch verspätet ab, sodass alles wieder zusammenpasst.
Aber man sollte es schon genau wissen. Ob ich Engel noch einmal anrufen und ihn fragen soll, ob er mir eine Kopie des Abschlussberichtes
schickt? Das wird er sicherlich nicht machen, aber ich könnte ihn bitten, zu recherchieren, wie die Leiche von Paul Stein
aussah. Andererseits müsste die Tochter das auch wissen, vielleicht hat sie ihn ja identifiziert. Wenn nicht sie, dann irgendjemand
anderes. Andererseits, wenn Christiane Stein genauso kurz angebunden bleibt wie am Telefon, werde ich nicht um den Fall betteln,
dann ziehe ich eine Stunde Aufwand ab, und die Sache ist erledigt.
Aber schade wäre es schon.
Um das Geld.
Und um die ungeklärte Frage.
Der alte Philipsrasierer fräste sich an der rechten Kinnhälfte durch seinen Drei-oder-doch-schon-ein-paar-Tage-älteren-Bart
und gab unvermittelt einen Pfeifton von sich und raste
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