Die blaue Liste
dann im Leerlauf weiter. Die Schneidköpfe rührten sich jedoch nicht
mehr, aber hingen in seinen Barthaaren fest. Dengler fluchte und entfernte die runden Scherköpfe von dem Gerät, sodass sie
an seinem Kinn hingen wie glitzernde Blutegel. Mit der Nagelschere schnitt er nun die Bartstoppeln ab, die sich in dem silbernen
Gehäuse verfangen hatten. Er sah in den Spiegel. In dem dunklen Gesichtsschatten führte eine breitere Spur vom Kinn bis zum
rechten Ohr.
Dengler setzte die Schneiden erneut auf das Gerät undschaltete es an. Ohne Erfolg, der Motor lief, aber er trieb die Scherköpfe nicht mehr an. Mist! Sein Nassrasierzeug war in
einer der Umzugskisten. Also ging er in den kleinen Raum und machte sich auf die Suche. Bis er das Notwendige gefunden und
sich rasiert hatte, war mehr als eine halbe Stunde vorbei. Er ging hinunter ins Basta.
An den kleinen Tischen hinter dem Fenster saßen nur wenige Personen. Ein jüngerer Mann, um die zwanzig, hockte trübsinnig
vor einem Glas Weizenbier. Er hatte kurze stoppelige Haare, deren Spitzen mit Gel zu pfeilartigen Borsten geformt waren, und
er trug ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«. Am Tisch daneben erklärten zwei Männer
in Anzügen um die dreißig einem dritten, wie er seinen Lexmark-Drucker anschließen könne.
Christiane Stein saß an dem kleinen Tisch am Fenster und rührte in einem Milchkaffee. Sie trug einen braunen Hosenanzug und
einen beigen Rollkragenpullover. Blonde, offene Haare fielen ihr bis auf die Schulter. Sie hatte schmale, fast zarte Augen
und etwas zu flächige Wangen. Als sie Dengler auf sich zukommen sah, zerknüllte sie eine Papierserviette und warf sie mit
einer achtlosen Bewegung auf den Tisch. Dann stand sie auf und reichte Dengler die Hand. Sie fühlte sich weich und warm an.
Dengler bestellte einen doppelten Espresso mit etwas Milch. »Mein Freund gab Ihnen einen Ermittlungsauftrag, ohne dies vorher
mit mir zu besprechen. Er wollte mir einen Gefallen tun, sicher – aber das Letzte, was ich möchte, ist, dass jemand Fremdes
in meinen Angelegenheiten herumstochert.«
»Ein Privatdetektiv, zum Beispiel.«
»Zum Beispiel.«
»Mm.«
»Ich bemühe mich«, sagte sie, »in dieses Unglück, das mich immer noch sehr belastet, niemanden hineinzuziehen. Esgeht nur mich etwas an. Meinem Partner, also Hans-Jörg, erzählte ich davon, vielleicht zu viel.«
Sie sah ihn an und Dengler bemerkte, dass sie dunkelblaue Augen hatte. Was für ein merkwürdiges Wort »Partner« doch ist, für
einen Menschen, den man liebt. Es klingt nach einer Gesellschaft, die eine Firma gründet. Vielleicht sind die meisten Ehen
so etwas Ähnliches. Hatte er Hildegard jemals seine Partnerin genannt, als sie sich noch liebten? Er wusste es nicht, aber
er hoffte, dass er es nicht getan hatte. Er sah Christiane an und ertappte sich bei der Frage, ob sie wohl gefärbte Kontaktlinsen
trug. Ich habe noch nie jemanden mit einer solchen Augenfarbe gesehen, dachte er.
»Wissen Sie, ob das Flugzeug pünktlich gestartet ist?«, fragte er.
»Die Maschine startete um 23:30 Uhr Ortszeit in Bangkok und sollte um 5:10 Ortszeit in Wien landen«, sagte sie. Es klang mechanisch,
wie auswendig gelernt.
»War dies auch der offizielle Abflugtermin?«
Sie blickte ihn an: »Wie meinen Sie das?«
»Na, das ist doch nicht so schwer. War die Maschine pünktlich? Stand 23:30 Uhr auf dem Flugplan? Anhand der Zeitungsausschnitte,
die Ihr ..., äh, Ihr Partner mir mitgab, konnte ich diese Frage nicht klären.«
»Es ist merkwürdig«, sagte sie und sah ihn verwundert an, »ich habe alle Informationen über den Absturz gesammelt, aber diese
Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ist sie wichtig?«
»Ja, wenn die Maschine Verspätung hatte, dann bestände die Möglichkeit, dass Ihr Vater in dem Flugzeug saß, obwohl er Sie
vorher angerufen hat. Stellen Sie sich vor: Er ist spät dran, denkt, dass die Maschine schon weg ist, und ruft Sie an. Dann
hört er, wie sein Name aufgerufen wird, und sprintet zum Flugzeug. War jedoch die Maschine pünktlich, so ist es sehr viel
wahrscheinlicher, dass er sie wirklich verpasste, aber dann stellen sich andere Fragen.«Als sie schwieg, fragte er: »Ihren Vater – wer identifizierte ihn? Sie?«
»Ja, meine Mutter und ich. Lauda Air brachte uns nach Bangkok. Ein gespenstischer Flug, beladen nur mit den Angehörigen der
Toten, einem Gerichtsmediziner und zwei
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