Die blaue Liste
dem Zimmer floh, schoss der Täter noch einmal und setzte das dritte Geschoss ins Bücherregal.
Warum?
Was sagen die beiden letzten »sinnlosen« Schüsse? War der Täter nervös? Schießwütig? Dem widersprach das stundenlange geduldige
Warten, bis der Präsident ihm endlich den Rücken zuwandte. Der präzise erste Schuss. Beides deutete -und wieder stockte Denglers
Atem, wie damals, als er den Gedanken zum ersten Mal dachte: Beides deutete auf eine langjährige militärische Ausbildung hin.
Aber die beiden folgenden amateurhaften Schüsse. Sie passen nicht zu einem Profi! Irgendwann nahm die Lösung von seinem Hirn
Besitz wie ein bösartiges Virus: Sollten die beiden sinnlosen Schüsse den professionellen, ja militärischen Charakter des
ersten Schusses vertuschen?
Überprüfen!
Gab es in den einschlägigen Dateien Reserveoffiziere mit Einzelkämpferausbildung? Hatten einige bei den Fallschirmspringern
in Calw gedient? Keine positiven Ergebnisse.
Nächste Spur.
Warum setzte jemand die Sicherheitsstufe in Düsseldorf herab? Dengler begann damit, Beamte des Landeskriminalamtes zu befragen,
und wurde innerhalb des gleichen Tages von Scheuerle zurückgepfiffen.
Nächste Spur.
Warum stand in dem Bekennerschreiben am Tatort nicht der Name des Opfers? Stattdessen nur allgemeines, schwer verständliches
Zeug über die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Imperialismus? Die nahe liegende Antwort: Kannten der oder die Schreiber
den Namen ihres Opfers noch nicht, als sie den Text schrieben?
Weiter!
Warum warteten die Mörder, bis der Präsident im oberen Stockwerk am Fenster zu sehen war? Wussten sie, dass in den Fenstern
des Erdgeschosses kugelsicheres Glas montiert war? Und im Stock darüber nicht? Wie können sie dies erfahren haben?
Nächste Spur.
Warum traf ein konkreteres Bekennerschreiben erst einige Tage nach dem Attentat ein? Doch auch dieses Schreiben wimmelte von
Fehlern. Konnte es sein, dass die Täter trotz der sorgfältigen Planung des Mordes es »versäumt« hatten, sich einfache, öffentlich
zugängliche Informationen über den Präsidenten zu beschaffen?
Er konnte es sich nicht vorstellen.
Damals nicht und heute nicht.
Dengler stand auf und strich sich mit einer schnellen Geste einige Haare aus der Stirn. Es war vorbei. Niemand würde diese
Fragen je beantworten!Das Schrillen des Telefons erlöste ihn von seinen Gedanken.
»Dengler.«
»Hier spricht Anton Föll.«
»Wer?«
»Anton Föll. Erinnern Sie sich nicht? Wir haben uns gestern gesehen. Wegen meiner Frau. Und der Anzeige. Ich wollte nur wissen,
ob Sie schon etwas unternommen haben?«
»Ja, aber ich habe noch kein Ergebnis, Herr Föll. Ich rufe Sie an, wenn ich etwas weiß.«
»Isch gut.« Der Mann zögerte.
»Es ist nur so«, sagte er dann, »man merkt ihr gar nichts an. Wenn sie diese Anzeige aufgegeben hätte, müsste man ihr doch
irgendetwas anmerken, oder?«
»Merkt man Ihnen denn an, dass Sie einen Privatdetektiv beauftragt haben, Herr Föll?«
»Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Und die Susanne hat das auch gemerkt. Ob ich was habe, hat sie gefragt, ich sei so nervös!«
»Ich hoffe, dass ich bald etwas weiß.«
Dann legte er auf.
An die untreue Susanne hatte er nicht mehr gedacht. Er loggte sich in Yahoo ein, gab den Namen Kranker_Doktor ein und das Passwort Altglashütten.
Sie hatte noch nicht geantwortet.
»Jürgen Engel hier, ich habe gerade meinen Anrufbeantworter im Amt abgehört. Ich soll dich zurückrufen.«
»Ich habe zwei Fragen an dich. Darf ich sie stellen?«
»Klar.«
»Die erste Frage ist fast schon beantwortet, aber ich stelle sie dir trotzdem: Konntet ihr den Passagier Paul Stein identifizieren?«
»Und die zweite Frage?«
»Weißt du, ob die Lauda Air beim Abflug aus Bangkok Verspätung hatte?«
»Für die erste Frage muss ich in unserem Abschlussberichtnachgucken. Der liegt im Archiv. Das kann also ein, zwei Tage dauern. Und die Antwort auf die zweite Frage weiß ich nicht.«
»Du rufst mich wieder an, wenn du im Archiv warst?«
»Ja, mach ich – aber du hängst unsere Telefonate nicht an die große Glocke?«
»Quatsch – sicher nicht.«
»Bis dann.«
»Bis dann.«
* * *
»Christiane Stein, guten Tag«
»Hier spricht Georg Dengler, guten Tag.«
»Oh, hallo, wie geht es Ihnen?«
»Gut. Danke. Ich muss Sie zwei Dinge fragen.«
»Fragen Sie.«
»Haben Sie oder Ihre Mutter noch die Kontoauszüge Ihres Vaters? Hat er auf dem Bangkoker Flughafen Geld von
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