Die blaue Liste
weiß nicht«, sagte Dengler, »ich war selber katholisch. Aber ich befürchte, ich kenne nur die engherzige Version.«
»Sind Sie es noch?«, fragte sie.
»Katholisch? Nein.«»Ich auch nicht mehr. Aber mein Vater war es auf eine aufgeschlossene Art. Er liebte meine Mutter wie ein junger Mann, über
all die Jahre, und wir, meine Schwester und ich, wir waren der Mittelpunkt der Familie, wir waren ihr Sinn, irgendwie, verstehen
Sie, was ich ausdrücken will – die Nachricht von seinem Tod war wie ein böses Erwachen aus einem schönen Traum.«
»Erzählen Sie mir von seinem Anruf.«
»Ich wollte ihn morgens um fünf Uhr in Wien auf dem Flughafen abholen. Meine Mutter stammt aus Hamburg, sie besitzt dort die
Wohnung ihrer Eltern. Ich lebte damals in einem Internat in Wien. Mutter wollte mit dem ersten Flug nach Wien kommen. Es war
geplant, dass sie ein paar Tage dort blieben, dann wollte Vater wieder nach Berlin.«
»Zur Treuhand.«
»Ja, zu seinem Büro in der Treuhand – abends, frühabends rief er an und sagte mir, dass er zu spät auf dem Flughafen angekommen
sei, die Maschine sei schon weg, er würde die nächste nehmen und noch einmal anrufen. In der Nacht rief meine Mutter an und
berichtete von dem Unglück, und ich beruhigte sie, dass Vater nicht in der Maschine gesessen habe. Aber schlafen konnte ich
nicht mehr. Sie rief dann am Morgen wieder bei mir an und sagte, dass Vater doch in der Maschine gewesen wäre. Ich hab's nicht
geglaubt, und vielleicht ist es mein Fehler, dass ich es immer noch nicht glaube.«
»Wissen Sie die exakte Uhrzeit des Anrufs? Sind Sie sicher, dass Ihr Vater tatsächlich nach Abflug der Maschine anrief?«
»Sie meinen die Uhrzeit – auf die Minute genau?«
»Ja, auf die Minute genau.«
»Nein, ich weiß nur noch, dass es etwa sechs Uhr war, vielleicht aber auch sieben Uhr.«
»Eine unangenehme Frage, trotzdem: Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Vater seine Familie, seine Frau verlassen wollte?«Er erwartete empörten Protest, aber sie schaute ihn müde an.
»Glauben Sie, das hätten wir uns nicht auch gefragt? Nicht nur einmal, hundert Mal, tausend Mal!«
»Und?«
»Undenkbar.«
»Undenkbar?«
»Ja, wirklich undenkbar.«
»Ich werde herausfinden, ob die Maschine Verspätung hatte. Dann rufe ich Sie an.«
Christiane Stein nickte und stand dann auf. Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten. Er legte seine Hand auf ihren
Arm und wartete.
* * *
Dengler ließ sich von der Auskunft die Telefonnummer der Lauda Air in Wien geben. Er stellte seine Frage. Wurde mit der Pressestelle
verbunden. Eine weibliche junge österreichische Stimme vibrierte vor Misstrauen. Warum er das wissen wolle. Er erklärte ihr
es knapp. Das könne sie nicht sagen. Ob sie ihn am Montag zurückrufen könne. Oder – er habe doch sicher ein Fax. Sicher. Dengler
gab ihr seine Telefon- und Faxnummer.
Anruf beim Flughafen Bangkok. Wieder landete er in der Pressestelle. Man weiß es nicht mehr. Es ist doch so viel Zeit vergangen
seither, oder? Rufen Sie mich zurück, wenn Sie etwas in Erfahrung bringen.
Internet. Google.de. Die Suchmaschine kann ihm bei dieser Frage auch nicht helfen.
Noch ein Anruf beim BKA. Jürgen nahm nicht ab. Er war wohl schon nach Hause gegangen. Dengler hinterließ auf seinem Anrufbeantworter
die Bitte um Rückruf und seine Telefonnummer.Vielleicht sollte er nicht mehr so oft im Amt anrufen. Dengler spürte, die Erinnerung kehrte zurück wie ein böser Traum. Er
hatte den Mord an dem Präsidenten nicht aufklären können. Im Grunde, dachte er, seit Scheuerle mir die Kommission Düsseldorf
übergab, habe ich keine einzige der grundlegenden Fragen klären können.
Plötzlich griffen die tausend Mal gedachten Gedanken erneut nach ihm: Warum feuerte der Mörder drei Mal? Der erste Schuss
war ein Profischuss. Absolut tödlich – über sechzig Meter in den Rücken des Präsidenten gesetzt und genau die Stelle getroffen,
die vier Lebensstränge zerstörte: das Rückgrat, die Aorta, die Speise- und die Luftröhre. Es war ein Schuss, der Erfahrung,
Training und umfassende anatomische Kenntnisse voraussetzte.
Wo konnten die Terroristen diese Fertigkeiten erworben haben?
Als der Präsident zu Boden fiel, setzte der Attentäter die Waffe nicht ab, sondern wartete. Er sah durch das Zielfernrohr
die Frau seines Opfers ins Zimmer stürmen und verletzte sie mit einem zweiten Schuss am Ellenbogen.
Warum?
Als die verletzte Frau aus
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