Die blaue Liste
Terroristenjägern aus Wien, die sich im Flugzeug betranken.«
»Und – haben Sie die Leiche identifiziert?«
»Wir waren noch völlig übernächtigt von dem langen Flug, mehrere hundert blasse Menschen, die sich bemühten, gefasst zu sein,
vor dem, was jetzt gleich auf sie zukommen würde. Landung. Bustransfer. Dann brachten uns einige Polizisten in eine Halle
im gerichtsmedizinischen Institut in Bangkok, und dort wurden wir zunächst von einem österreichischen Beamten der Staatsanwaltschaft
belehrt, warum die folgende Prozedur sein müsse, dass ohne Identifizierung der Staat nicht...«
Sie starrte auf den Tisch.
Dann fuhr sie fort: »Danach führten uns Beamte des thailändischen Innenministeriums zu einer Wand und dort ...« Christiane
Stein atmete einmal kräftig ein: »Dort hingen Fotos, von Leichen ... viele bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt oder völlig
verbrannt, entsetzliche Bilder, mit Reißnägeln an dieser Wand festgemacht. Und sie gaben uns Listen. Da stand dann drauf:
›Ein Ehering mit der Gravierung Für Magda ‹oder ›Ein Schuh, Marke Salamander, braun, Größe 44‹. Wir fanden die Reste seines grünen Stoffkoffers. An einer Seite verkohlt.
Den Inhalt hatten sich wahrscheinlich Plünderer geholt, nur für eine braune Mappe hatten sie keine Verwendung, dort hob mein
Vater Fotos auf, Fotos von meiner Mutter ... und von meiner Schwester und mir.« Sie sah ihn an.
»Die Fotos waren vollkommen unversehrt«, sagte sie, »ich ... ich war gerade sechzehn geworden.« Sie schluckte und bemühte
sich, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken: »Es waren meine Geburtstagsfotos.«»Und die Leiche selbst sahen Sie nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und auf den Fotos? Haben Sie Ihren Vater erkannt?«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
Dengler sagte: »Ich weiß, dass nicht alle Leichen zweifelsfrei identifiziert wurden, und es kann sein, dass jemand anderes,
der Stand-by von Thailand nach Wien flog, auf dem Platz Ihres Vaters saß. Es gibt einige Europäer, die in Thailand um dieses
Datum herum vermisst werden. Diese Möglichkeit kommt nur in Betracht, wenn die Maschine pünktlich war. Verstehen Sie nun meine
Frage?«
Sie sah zum Fenster hinaus. Es regnete mittlerweile, erstaunlich aufgedunsene Tropfen zerplatzten auf dem Pflaster. Kleine
Bäche bildeten sich am Rand der Straße und flossen irgendwo hin. Immer noch war es dunkel.
»Vielleicht habe ich ihm unrecht getan«, sagte sie.
»Ihrem Vater?«
»Nein. Hans-Jörg. Dafür, dass Sie noch keine vierundzwanzig Stunden über die Sache Bescheid wissen, haben Sie viel herausbekommen.«
Sie zögerte einen Augenblick: »Glauben Sie, dass es eine Chance gibt, dass mein Vater nicht in dem Flugzeug saß?«
»Eins zu tausend.«
Sie stand auf und sagte: »Dann machen Sie weiter. Ich nehme den Auftrag nicht zurück.«
»Gut, aber dann muss ich viel mehr wissen, als in den Unterlagen steht, die Herr Mittler mir gab.«
Sie setzte sich wieder.
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles über Ihren Vater. Alles, was Sie über ihn wissen und noch viel mehr.«
»Fragen Sie!«
Dengler nahm sein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts.
»Wie alt war Ihr Vater beim Absturz der Maschine?«»Fünfundfünfzig.«
»Was machte er?«
»Beruflich?«
»Ja.«
»Er arbeitete für die Treuhand.«
Dengler sah sie überrascht an.
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21
Vor dem Fernseher zusammengekauert, wohnten Kerstin und Uwe der großen Bewusstseinsoperation bei. Alle Politiker, die zu dem
Attentat befragt wurden, sprachen sofort über die Demonstrationen in Leipzig.
Die Tagesthemen brachten ein Interview mit dem sächsischen Innenminister. Er blickte ernst in die Kamera und erklärte, dass man nicht für
die Ziele der Mörder demonstrieren dürfe, und verlangte, dass die Montagsdemonstrationen in Leipzig ausgesetzt werden. Dezenter,
aber in die gleiche Richtung sprach der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe: »Politische Schaukämpfe, Schuldzuweisungen
und das Aufbauen von Buhmännern lösen keine Probleme.«
Der CSU-Generalsekretär Huber forderte die Kritiker der Treuhand auf, keine weiteren Emotionen wegen der schlechten sozialen
Lage zu schüren. In der Frankfurter Rundschau lasen sie, der Chef der Industriegewerkschaft Chemie fordere, vorerst nicht mehr auf die Straße zu gehen.
Kerstin versäumte keine Nachrichtensendung. Sie kaufte alle Zeitungen, und um die WELT zu erstehen, wagte sie sich sogar an den Düsseldorfer
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