Die blaue Liste
Hauptbahnhof. Je mehr Sendungen sie sah und je mehr Zeitungen sie las,
desto schweigsamer wurde sie.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, wollte Uwe eines Abends wissen, als sie bereits auf den Matratzen lagen.
Sie flüsterte: »Wir haben der Sache den Todeskuss gegeben.« Am nächsten Tag meldete die Tagesschau, dass sich an der größten geplanten Demonstration, die die Proteste zusammenfassen sollte, immer weniger Leute beteiligen wollten.
Die IG Metall hatte neunhundert Busse bestellt und bekam nur hundertvierundachtzig voll.
»Uwe«, flüsterte Kerstin in der Nacht, »weißt du, was ich manchmal denke?«
Uwe schwieg.
»Alle Welt dachte am Anfang, unsere Aktion sei von den Resten der Stasi durchgeführt worden.«
Nun schwiegen beide.
»Wenn die aufgelöste Stasi zu einer solchen Aktion fähig wäre, dann müsste es doch ein westlicher Geheimdienst erst recht
sein«, flüsterte sie.
»Das darfst du nicht einmal denken«, murmelte Uwe. »Hast du noch die Telefonnummer von dem Genossen Steinmetz, die Heinz dir gegeben hat?«
Uwe nickte still, und das Schweigen gesellte sich zu ihnen wie ein ungebetener Gast. Sie hielten einander fest und fühlten
sich verloren wie noch nie.
Am nächsten Tag kaufte Kerstin bei Saturn einen Computer und einen Nadeldrucker.
Sie studierte alle Nachrufe auf den Präsidenten. Aus einem Artikel der WELT erfuhr sie zum ersten Mal, dass er Sanierer des Hösch-Konzerns gewesen war. »Brutaler Sanierer«, tippte sie in den Rechner.
Sie fühlte sich elend.
Und wütend.
Uwe lag den ganzen Tag auf der Matratze und schob eine Depression. Kerstin dagegen musste sich ihre elende Lage vom Leib schreiben.
Der Präsident habe »bei Hösch innerhalb von wenigen Jahren mehr als zwei Drittel aller ArbeitnehmerInnen rausgeschmissen und
den bankrotten Konzern zu neuen Profitraten geführt«, hämmerte sie in die Tastatur, obwohl viele Medien erwähnten, dass er
keinen einzigen Arbeiter »rausgeschmissen« habe, sondern in Zusammenarbeit mit Betriebsräten und IG Metall einen Sozialplan
entwickelte, der zum Ausscheiden älterer Mitarbeiter führte, denen 90 Prozent ihres Nettoeinkommens bis zur Rente garantiert
wurden.
»Kapitalstrategen wie ihm geht es darum, auch die Bedingungen für den Angriff auf die Seele der Menschen und ihretiefe Deformierung, die sie voneinander isoliert und scheinbar unüberwindliche Mauern zwischen ihnen aufbaut, zu schaffen«,
schrieb sie. Dann legte sie sich zu dem zitternden Krems.
Am nächsten Morgen schickte sie ihren Brief an dpa Düsseldorf.
Etwas anderes entging ihrer Aufmerksamkeit. Bereits am Dienstag traf sich, wie vom Präsidenten einberufen, der Verwaltungsrat
der Treuhand. Er veröffentlichte ein Dokument, das als »Testament Rohwedders« durch die Medien kursierte und das vor allem
den Satz »Privatisierung ist die beste Sanierung« herausstellte. Es war dies zwar das genaue Gegenteil der Absicht des Präsidenten,
aber es gab die neue Richtung der Treuhand an.
Das große Fressen begann, der Osten wurde zerstückelt - ernst zu nehmenden Widerstand gab es nicht mehr.
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22
»Na ja, nicht richtig für die Treuhand«, sagte Christiane Stein, »eigentlich war er immer an der Uni tätig, in Innsbruck.
Er war Wissenschaftler, Professor für Politische Ökonomie, und beschäftigte sich mit Wirtschaftsfragen. Er war von der Uni
an die Treuhand nach Berlin gewissermaßen ausgeliehen worden. Er hatte wohl einen Zeitvertrag dort.«
»Was machte er in Bangkok?«
»Er traf dort seinen früheren Institutsleiter. Zusammen wollten sie nach Wien zurückfliegen.« Sie sah ihn an, und er beobachtete,
wie sich Tränen in den tiefblauen Augen sammelten. Sie wandte den Blick nicht ab.
»Wie finden wir heraus, ob die Unglücksmaschine pünktlich startete?«, fragte sie ihn.
»Wir finden es heraus«, sagte Dengler, und er bemühte sich, Wärme in seine Stimme zu legen.
»Was für ein Mensch war Ihr Vater?«, fragte er, um sie abzulenken.
Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie die Tränen aus den Augen.
»Herzensgut war er. Ein Idol – für mich, so etwas in dieser Richtung. Obwohl er nicht viel Zeit für uns hatte. Er wusste immer
etwas Kluges, etwas Bedeutendes zu sagen, ohne dass es belehrend klang, verstehen Sie? Gebildet war er und sehr katholisch.«
»Katholisch?«
»Ja, katholisch, aus Überzeugung. Nicht diese Art von engstirnigem und engherzigem Katholischsein, wenn Sie wissen, was ich
meine.«
»Ich
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