Die blaue Liste
Straße, zwei alte Männer in grauen Blousons schlurften den Bürgersteigentlang, und eine junge Frau schob in großen Schritten einen Kinderwagen an ihnen vorbei. Das Autoradio brachte Nachrichten
eines der unzähligen Berliner Lokalsender. Die ehemalige Tagesschausprecherin Susanne Stahnke ließ ihre Darmspiegelung live
im Fernsehen übertragen, berichtete ein Reporter mit deutlich hörbarer Aufregung in der Stimme. Na, wenn das Gesicht nicht
mehr reicht, dachte Dengler. Dann waren sie da. Dengler zahlte, stieg aus und klingelte bei Herzen im 9. Stock.
Iris Herzen bat ihn hinein und ging selbst vor. Der Flur war kurz und dunkel. An einer kleinen Holzgarderobe, einer Querlatte
mit einigen Knöpfen, registrierte Dengler zwei Mäntel, einen dunkleren schweren Damenmantel und einen hellbeigen Staubmantel,
aus dessen Ärmel ein blau und rot gestreiftes Halstuch hing. Auf der rechten Seite stand ein halbhoher Spiegel, der von einer
Plastikimitation von Buchenholz umschlossen war und an dem ein Schirmständer aus schwerem Gusseisen befestigt war, der zwei
Schirme enthielt, einen großen schwarzen Herrenschirm mit festem, poliertem Griff aus Holz und einem kleinen roten Damenknirps,
wie ihn jede Drogerie verkaufte.
»Wohnen Sie allein?«, fragte er die Frau.
Sie antwortete nicht, sondern führte ihn in das Wohnzimmer. Er blieb einen Augenblick erstaunt stehen. Die Wände waren ockerfarben,
die Farbe offenbar mit einem Schwamm aufgetragen und dann verwischt, sodass das Zimmer ihn an eine toskanische Bauernstube
erinnerte. An den Wänden hingen mehrere Originale, abstrakte Kunst, nur in Rot, Gelb und Blau gehalten, die den mediterranen
Charakter des Raumes unterstrichen. Eine moderne weiße Couch aus festem Stoff mit klassisch klarer Form an der Längsseite,
zwei Sessel, grün bespannt, mit hohen Lehnen standen der Couch gegenüber. An der Querseite sah Dengler einen kleinen Tisch
mit Kristallkaraffen, die mit unterschiedlich farbigen Getränken gefüllt waren.Dengler setzte sich in einen der beiden grünen Sessel. Iris Herzen nahm ihm gegenüber auf der Couch Platz. Sie zog das rechte
Bein auf die Sitzfläche und versteckte es unter ihrem linken Oberschenkel. Sie trug eine schwarze Hose aus fein geripptem
Cord, Baumwollsocken, die grob und selbst gestrickt wirkten, und ein dunkelgrünes, von vielem Waschen bereits gebleichtes
Sweatshirt, das sie sicherlich bis zu den Knien ziehen konnte. Ihr Haar war grau, schon fast weiß, halb lang und zu einem
Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht wirkte trotz der Falten um Augen, Mund und Stirn mädchenhaft.
Sie starrte ihn neugierig an und eröffnete dann das Gespräch. »Paul Steins Frau«, sie verbesserte sich sofort, »seine Witwe,
sie bat mich, mit Ihnen zu sprechen. Sie sagte mir auch, dass Sie in den alten Geschichten herumwühlen werden. Ich habe das
alles lange hinter mir und rede nicht mehr darüber -schon lange nicht mehr und mit niemandem.«
Dengler wollte die Unterhaltung nicht in dieser Tonlage fortführen.
Er sagte: »Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses Zimmers. Nie hätte ich in dieser Gegend einen solch schönen toskanischen
Raum erwartet.«
Er war erleichtert, als sie lächelte.
»Sie haben es erkannt? Gefällt es Ihnen? Die Farben habe ich aus Grosseto mitgebracht. Es war meine erste Reise, nachdem die
Mauer gefallen war. Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch nicht gefragt habe: Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Gerne.«
»Espresso oder Cappuccino?«
»Darf ich mir etwas wünschen?« Sie lachte: »Sicher.«
»Dann hätte ich gerne einen doppelten Espresso mit ein bisschen Milch.«
Sie erhob sich mit einer fließenden Bewegung, und Dengler dachte, dass sie bestimmt seit vielen Jahren Yoga praktiziere.Er folgte ihr in die Küche. Er bemerkte, dass sie die gleiche kleine schwarze Krups-Espressomaschine benutzte wie er. Allerdings
bediente sie das Gerät schneller, geübter und fließender, irgendwie italienischer, fand er und sagte es ihr. Sie lachte und
erzählte, dass sie jedes Jahr zwei oder drei Monate in Italien lebe, seit sie in Rente gegangen sei.
»Sie wirken auf mich nicht wie eine Rentnerin.«
»Das bin ich schon lange. Kurz nach dem schrecklichen Unfall von Paul wurde die Abteilung aufgelöst oder umorganisiert und
alle, die nicht auf der neuen Linie lagen, verschwanden irgendwie – ich in Rente.«
»Erzählen Sie mir von der Abteilung.«
Sie gab ihm seine Tasse mit dem doppelten
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