Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
Vom Netzwerk:
Espresso, und sie gingen zurück ins Wohnzimmer. Dengler setzte sich wieder in den
     grünen Sessel. Iris Herzen kletterte erneut auf die Couch und sah ihn nachdenklich an.
    »Ich will von dieser Zeit nichts mehr wissen.«
    Er nahm einen kleinen Schluck Espresso; er schmeckte stark, schwarz und süß und gab ihm das Gefühl, auf einer Piazza in der
     Sonne zu sitzen, und das sagte er ihr.
    »Es war eine Schlangengrube«, sagte sie leise.
    Dengler verstand zunächst nicht, was sie meinte, und sie sah es ihm an.
    »Unsere Abteilung«, wiederholte sie, »war die reinste Schlangengrube.«
    Dengler wartete.
    »Ich arbeitete in der Grundsatzabteilung der Treuhand und war dort die Sekretärin von Paul Stein. Die Abteilung hatte von
     unserem Präsidenten einen klaren Auftrag, den ich immer noch auswendig aufsagen kann: Welche strategischen Maßnahmen müssen
     ergriffen werden, damit die Betriebe der ehemaligen DDR erhalten bleiben und ihre gewachsenen Verbindungen zu den Märkten
     Osteuropas und der Sowjetunion gehalten und ausgebaut werden? Für diese Fragestellung interessierten sich die meisten Referenten
     der Abteilungnicht. Sieben von ihnen kamen aus Westbetrieben, drei aus dem Hochschulbereich, wie Paul Stein von der Universität Innsbruck,
     dann waren da noch ein Alibi-Mensch von den Gewerkschaften und zwei ehemalige Direktoren von DDR-Betrieben, die ihr Fähnchen
     nach dem jeweiligen Wind hängten. Die Wirtschaftsvertreter schrieben unentwegt Papiere, dass man die DDR-Betriebe nicht sanieren,
     sondern verkaufen müsse, und zwar billig und am besten an ihre Konkurrenten, die über das nötige Know-how verfügen würden.
     Allein Paul und der Gewerkschaftsvertreter und manchmal einer der beiden Direktoren nahmen den Auftrag der Abteilung ernst
     – alle anderen torpedierten ihn.«
    Sie sprang auf und lief im Zimmer umher.
    »Paul war der Fleißigste«, fuhr sie fort, »sein Denken kreiste um den Erhalt der Betriebe und der Arbeitsplätze. Ich weiß
     es; ich habe seine Papiere getippt und viele Stunden mit ihm diskutiert.«
    Sie sprach zögernd weiter: »Wissen Sie, ich bin kein religiöser Mensch. Paul war katholisch, überzeugt katholisch, ihn trieb
     eine Mission, die ich nicht immer verstanden habe. Er sah in seiner Aufgabe bei der Treuhand die Chance ... etwas Sinnvolles
     zu tun.«
    Sie blieb still im Zimmer stehen und sah aus dem Fenster. Ihre Stimme klang nun sanft: »Dabei war er in den letzten Wochen
     vor dem schrecklichen Mord so zuversichtlich, so voller Optimismus. Er sagte mir sogar, dass diesmal die Guten gewinnen würden.
     Ich glaube, er war glücklich.«
    »Sie meinen, dass er sich gegen die Industrievertreter durchsetzen konnte?«
    »Ja, davon war er überzeugt. Er hatte einen Termin mit dem Präsidenten und seinem früheren Professorenkollegen arrangiert
     – nur wenige Wochen, bevor Rohwedder ermordet wurde. Als er aus dem Büro des Präsidenten zurückkam, schwenkte er eine Flasche
     Champagner. Wir haben gewonnen, rief er, und dann tranken wir beide die ganzeFlasche aus. Am nächsten Tag fing er an, mir die Liste zu diktieren.«
    »Welche Liste?«
    »Es waren Namen und Adressen, Umsatzzahlen von Betrieben in den neuen Bundesländern. Paul telefonierte viel, erkundigte sich
     über das Unternehmen, bevor er mir die Daten diktierte. Die Liste war ihm sehr wichtig. Zur besseren Unterscheidung musste
     ich sie auf blaues Papier drucken.«
    »Eine blaue Liste«, Dengler sagte es ruhig vor sich hin, »irgendwo ist mir diese Liste schon begegnet.« Doch wo? Er durchkämmte
     sein Gedächtnis, aber es fiel ihm nicht ein.
    »Als die Liste fertig war«, fuhr Iris Herzen fort, »schrieb er eine Art Vorwort: über die Vorteile von Genossenschaften, wie
     sie der Treuhand helfen könnten, Arbeitsplätze zu erhalten und eine schwierige Zeit zu überstehen. So etwas in dieser Richtung.
     Als alles fertig war, trug ich die Blaue Liste selbst hinüber zum Büro des Präsidenten. Paul wollte sie nicht der Hauspost
     anvertrauen.«
    Jetzt standen ihr Tränen in den Augen, und nur mühsam gelang ihr der nächste Satz.
    »Und drei Wochen später wurde der Präsident erschossen. Und Paul wurde paranoid. Er fühlte sich selbst bedroht – als wäre
     er für die Terroristen wichtig! Ich habe ihn manchmal ausgelacht deshalb. Doch nur ein paar Wochen später war auch Paul tot.«
    Ein Weinkrampf verbog ihre Schultern.
    »Frau Herzen«, sagte Dengler, so weich er konnte. Es gab noch so viele Fragen.
    »Bitte

Weitere Kostenlose Bücher