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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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gehen Sie; ich wollte nicht mehr über diese Zeit sprechen.«
    Sie setzte sich auf die italienische Couch, zusammengekrümmt, wie unter schweren Krämpfen.
    »Wie heißt der Gewerkschaftsvertreter? Und nennen Sie mir bitte auch die anderen Namen.«
    Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus denAugen: »Ich erinnere mich nicht mehr an alle. Gott sei Dank. Ich habe versucht, das alles zu verdrängen. Auch all diese Namen
     von damals. Der von den Gewerkschaften hieß Gerhard Heidrich – und ..«, sie überlegte, »einer der Industrieleute, der hieß
     Hänsel, ja, Peter Hänsel. Und von den VEB-Genossen lebt nur noch einer – Hans Bierlein, glaube ich. Aber ich weiß wirklich
     nicht, wo er oder die anderen heute leben.«
    »Ich finde sie schon«, sagte Georg Dengler, erhob sich und verließ ihre Wohnung.

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    40
    Gerhard Heidrich war schon fünf Jahre im Ruhestand. Er empfing Dengler in seinem Haus in der Friedrichstraße in Dossenheim
     bei Heidelberg. Ein Jahr lang habe er »die Hütte« umbauen lassen, sagte er, und führte Dengler durch ein komplett neu renoviertes
     Altstadthaus, drei Stockwerke, die auf Dengler unerträglich sauber und steril wirkten. Nirgendwo sah er etwas Ungeplantes,
     Ungewolltes, einen gebrauchten Teller, einen vergessenen Scheuerlappen oder einen einzelnen Schuh.
    Schließlich standen sie im Wohnzimmer, und Heidrich bot dem Detektiv Platz auf einer strahlend weißen Ledercouch an. Vorsichtig
     setzte sich Dengler.
    Heidrichs Frau, eine fünfzigjährige Blondine mit wettergegerbten Gesichtszügen, stellte wortlos eine grüne Flasche ohne Etikett
     mit zwei Sektkelchen auf ein kleines Tischchen neben der zweiten Couch. Dann verließ sie das Zimmer.
    Heidrich, ein großer Mann, dessen Bauch sich über dem Gürtel wölbte, öffnete umständlich die Flasche und goss die beiden Gläser
     voll.
    »Winzerabfüllung aus der Pfalz«, sagte er. Und: »Die Pfälzer Sekte werden immer unterschätzt.«
    Man stieß an. Dengler trank nur einen kleinen Schluck.
    Heidrich leckte sich die Lippen. »Guter Tropfen, oder?« Dengler nickte und stellte sein Glas auf den kleinen Tisch zurück.
     »Sie wollen also etwas über Paul Stein erfahren.«
    »Ja, ich habe gehört, dass Sie beide in der Treuhand so etwas wie Freunde waren.«
    Heidrich lachte: »Freunde! Ich glaube nicht, dass man in dieser Atmosphäre Freundschaften schließen konnte.«
    »Warum nicht?«
    »Da ging es um viel Geld!«
    »Und worin bestand Ihre Aufgabe?«»Ich war schon immer Gewerkschafter, IG Chemie. Hab beim Chemiewerk in Mannheim gelernt. Jugendvertreter, freigestellter Betriebsrat,
     dann hab ich lange beim DGB in Düsseldorf geschafft. Kurz bevor ich in Rente ging, wurde ich zur Treuhand geschickt. Ich sollte
     dafür sorgen, dass das alles möglichst sozialverträglich abläuft, diese ganzen Umstrukturierungen und so weiter.«
    »Und – lief es sozialverträglich?«
    Heidrich starrte ihn verblüfft an und sprang dann aus dem Sessel.
    »Wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn wir nicht mitgemacht hätten. Man muss die Sachen immer mitmachen, um noch Schlimmeres
     zu verhindern. So hab ich es mein Leben lang gehalten. Immer noch Schlimmeres verhindern. Das ist nicht immer leicht.«
    Er füllte sein Glas erneut.
    »Paul Stein teilte diese Absicht?«, fragte Dengler.
    »Stein, Stein, Stein!« – Heidrich rannte in seinem Wohnzimmer auf und ab.
    »Paul war ein Utopist! Er hatte völlig unrealistische Vorstellungen. Wollte mit dem Kopf durch die Wand«, sagte er.
    »Welche?«
    Heidrich blieb abrupt stehen und starrte Dengler an.
    »Er wollte, dass die Leute Eigentümer ihrer Werke bleiben, so was in dieser Richtung. Ein frühutopischer Sozialist und dazu
     stockkatholisch. Hohe Ideale und nicht kompromissfähig.«
    Er trank den Sekt aus und goss sich sofort nach.
    »Aber gehörten die Werke denn nicht den Bürgern? Stand das denn nicht im Treuhandgesetz?«
    »Die Leute waren doch gar nicht in der Lage, einen Betrieb zu verwalten. Vorher hat die SED alles gemacht. Ich kenne das ja
     alles. Hier!« – Heidrich rannte an sein Bücherregal und zog einige Bücher heraus und schob sie wieder zurück. Er wurde immer
     hektischer. Schließlich gab er auf.Er sagte: »Ich weiß doch alles. Irgendwo stehen doch noch die Bände von Rosa Luxemburg.«
    Dengler sah ihn fragend an. Das brachte ihn noch mehr in Fahrt.
    Heidrich sagte: »Die Menschen waren doch entmündigt. Die brauchten gute Leute, die ihre Interessen in die Hand

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