Die blaue Liste
küsste ihn federleicht auf die Wange.
Bin ich für diese Frau auf die Welt gekommen?
»Komm doch einfach mit! Mein Freund Mario und ich fahren nach Cannes, dann nach Siena und schließlich an den Comer See.«
Sie lächelte und schien über sein Angebot nachzudenken. Er sah es ihren Augen an, wie sie alle Für und Wider erwog.
»Klingt gut«, sagte sie, »vielleicht komme ich mit. Lass mir einen Tag Bedenkzeit.«
Dann sah sie ihn wieder an und ahnte nicht, welche Orkane ihr Blick in ihm auslöste.
»Geh jetzt«, sagte sie, und er schwebte die Treppe hinab.
Unten legte er noch einmal Junior auf:
Oh, Hoodoo, Hodoo man,
Make this woman understand.
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37
Professor Anders hastete in die Bibliothek. Er kickte die Tür mit dem Fuß zu, knallte seine braune Schweinsledertasche auf
den Tisch und ließ sich in den Sessel am Tischende fallen. Erwartungsvoll blickte er in die Runde und erwartungsvoll blickten
drei Professoren und vier Assistenten zurück.
»Es geht um eine ernste Sache«, sagte er und kramte in der Aktentasche.
Er zog einen Stapel Papiere hervor und wuchtete sie auf den Tisch. Die Sonne blendete ihn, und er blinzelte die Mitarbeiter
über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Der Herrgott gab uns dieses Elixier. Er wird sich schon etwas dabei gedacht haben, dass er es ausgerechnet vor unserer Haustür
abgestellt hat. Wir müssen nun entscheiden, ob wir es benutzen oder ob wir es versauern lassen.«
Paul Stein schmunzelte. Ihm gefiel der Einfall, das Modell der Produktivgenossenschaft Matrei mit einem Elixier zu vergleichen.
Stein kannte Professor Anders genau; er arbeitete nun schon im achten Jahr mit ihm zusammen. Er wusste, wie er dachte. Der
Zusammenbruch der Planwirtschaften im Osten Europas und vor allem die erklärte Absicht der DDR, der Bundesrepublik Deutschland
beizutreten, stellte die gesamte Zunft der Wirtschaftswissenschaftler vor riesige Herausforderungen.
Wie sollte der Übergang von einer Staats- zu einer Privatwirtschaft organisiert werden? Vor allem eine Frage diskutierten
sie immer wieder: Wie konnte verhindert werden, dass die technisch und organisatorisch rückständigen Betriebe des Ostens in
dem rauen Wettbewerb mit den Firmen des Westens nicht sofort untergingen? Sie produzierten nicht nur um ein Vielfaches aufwendiger
als ihre westlichen Konkurrenten, sie besaßen auch nicht deren gewachsene underprobte Vertriebsstrukturen, nicht die Marketing- und Werbemöglichkeiten und vor allem nicht die über hundertjährige Erfahrung
im Kaufen und Verkaufen.
Die meisten Fachleute waren sich einig, dass die Ostfirmen für eine Zeit des Übergangs unter einen wirksamen Schutz gestellt
werden mussten, wenn sie nicht in kürzester Zeit zusammenbrechen sollten.
Und nun lag die Lösung für diese gewaltigen Probleme ausgerechnet vor ihrer Tür. Das Institut befasste sich schon lange mit
der Produktivgenossenschaft Matrei. Anders schrieb in den letzten Jahren unzählige Fachartikel, hielt Vorträge, initiierte
Rundfunksendungen und Artikel in österreichischen Zeitungen. Stein hielt Vorlesungen über das Thema und versuchte innerhalb
der Kirche das Modell publik zu machen. Aber alle diese Versuche waren nicht erfolgreich. Die österreichischen Gewerkschaften
interessierten sich nicht für das Modell Matrei; das Unternehmen brauchte keinen Betriebsrat, die Beschäftigten wählten schließlich
die Unternehmensführung selbst. Die SPÖ engagierte sich nicht, weil die Gewerkschaften daran kein Interesse hatten, und die
Kommunisten konnten bei den gut katholischen Tiroler Arbeitern nie einen Blumentopf gewinnen.
Die Öffentlichkeit nahm all diese Informationen, Publikationen und engagierten Auftritte mit dem gleichen Interesse zur Kenntnis
wie die Nachricht von der Entdeckung einer neuen Käfersorte in Borneo.
Bei der Krise um das hoch verschuldete Stahlwerk Voechst hatte das Institut einen Vorschlag zur Sanierung eingebracht, der
auf ihren Untersuchungen des kleinen Werkes in Matrei beruhte. Stein erinnerte sich, wie sie Nächte lang rechneten, verschiedene
Entschuldungs- und Privatisierungsmodelle prüften – und schließlich genau nachweisen konnten, dass das günstigste Modell sei,
das Werk einfach den Beschäftigten zu überschreiben. Dies sei auch für die Überlebenschance von Voechst das Beste, denn nur,
wenn die Arbeiter undAngestellten wirklich Eigentümer des Werkes seien, seien sie auch bereit, eigene große Opfer zu bringen,
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