Die blaue Liste
bis die Fabrik wieder
profitabel arbeite.
Alles genau belegt. Alles berechnet. Bis auf den letzten Schilling. Über dreihundert Seiten umfasste die Studie.
Es wurde ein Desaster. Die Presse goss Kübel von Hohn über Professor Anders aus: Das Werk den Arbeitern zu schenken – so ein
Quatsch! Selbst innerhalb der ÖVP, deren Mitglieder Anders und Stein waren, sah man sie an, als litten sie an schwerer geistiger
Zerrüttung.
Stein wusste, dass Anders bleibende Verletzungen aus dieser Kampagne davongetragen hatte, die auch dadurch nicht gelindert
wurden, dass sie – Anders und alle seine Mitarbeiter – mit ihren Prognosen Recht behalten hatten. Die Sanierung von Voechst
kostete die Steuerzahler viele Millionen Schilling, und viele Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz.
Die Wunde war noch offen.
Und nun stand eine erneute Herausforderung an – unvergleichlich größer als die erste, verlorene.
»Ich sprach vor drei Tagen lange mit dem Präsidenten der Treuhand«, sagte Anders nun.
»Rohwedder will die DDR-Betriebe sanieren. Er denkt daran, sie mit Staatsbeteiligungen auszustatten, bis sie auf eigenen Füßen
stehen. Sie sollen in der Sanierungsphase ihre gewachsenen Verbindungen zu den Märkten im Osten nicht verlieren, sodass Deutschland
nach der Sanierungsphase eine machtvolle Bastion in diesen Märkten aufgebaut hat. Deutschland hätte dann dort nach erfolgreicher
Umstellung mehr Einfluss als die Amerikaner.«
Er fuhr fort: »Die ungelöste Frage ist: Warum sollen die Beschäftigten die unabsehbaren Mühen der Umstellung auf sich nehmen,
wenn sie nichts zu sagen haben? Das Eigentum wurde der Treuhand übertragen, und die ist weit weg.« Paul Stein unterbrach ihn:
»Und hier könnte unser Elixier wirken?«»Es würde viele Probleme lösen.«
Nach einer Pause sagte er: »Wir können es aber nicht so machen wie bei Voechst. Eine gute Studie vorlegen und hoffen, dass
die besseren Argumente siegen. Dafür habe ich alle Hoffnung verloren. Diesmal müssen wir direkt hinein.«
Sie sahen ihn fragend an.
»Die Treuhand braucht dringend Leute aus der Wissenschaft, solche wie uns. Wir müssen hineingehen. Für eine gewisse Zeit zumindest
– und das Elixier von innen verabreichen.«
Anders sah Stein an: »Wären Sie bereit, für zwei oder drei Jahre nach Berlin zu gehen?«
»Alleine?«
»Nein, wir werden einen kleinen Trupp bilden – die Sturmtruppe Gottes.«
Alle lachten; dann steckten sie die Köpfe zusammen und berieten, wer sich beurlauben ließe, um für einige Zeit zur Treuhand
zu wechseln.
Drei Wochen später flog Paul Stein zu seinem neuen Arbeitsplatz nach Deutschland, Jan Moser begleitete ihn als sein Assistent.
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38
Es war noch stockdunkel, als er an der Pforte des Großmarktes aus dem Taxi stieg und den Fahrer bezahlte.
Fünf Flutlichtmasten arbeiteten das Pförtnerhaus und die Durchfahrt mit der geöffneten Schranke aus dem Dunkel. Ein uniformierter
Sicherheitsmann stand an der Einfahrt und winkte die kleinen weißen Lkws herein, die ohne Unter-lass auf das geräumige Gelände
schossen.
Dengler sah mehrere Hallen, durch deren Deckenfenster helles Licht nach außen drang.
Der Pförtner wies ihm den Weg: »Halb rechts, durch die Gemüsehalle, dann sind Sie im Blumengroßmarkt.«
Dengler schob sich durch das Gedränge der ersten Halle. Bauern aus der Umgebung räumten die grünen Kisten mit ihren Produkten
hin und her und stapelten Kartoffeln, Möhren und Gurken. Dazwischen gingen die Einkäufer, manche zielbewusst, andere schlenderten
von Stand zu Stand, prüften die Qualität mit einem knappen Griff. Überall wurde lautstark gehandelt und bar bezahlt.
Ein schwäbischer Basar, dachte Dengler.
In der Blumenhalle empfing ihn ein feuchter Geruch. Unter einem großen Schild mit der Aufschrift »Schnittblumen« wogte ein
buntes Meer von Rosen, Gerbera und Nelken. Eine Bäuerin, gebeugt vom Alter, sortierte auf einem kleinen Pult beschriebene
Zettel, die gichtverknotete Hand ließ den schweren schwarzen Geldbeutel dabei nicht los. Die meisten Händler trugen grüne
Schürzen oder grüne Pullover. Die Kunden, die sich in den Gängen drängten, schoben mannshohe, feuerverzinkte schmale Wagen
mit metallenen Einlegebrettern vor sich her, in die sie schwarze Kübel mit Schnittblumen, orange Untersetzer mit Osterglocken
und Paletten mit Stiefmütterchen luden.
An der Decke und an den Wänden hatten die Gärtner ihreFirmenbezeichnungen
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