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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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hatte, war es für ihn, die weit im Zimmer zerstreuten Skatkarten einzusammeln; denn er wollte alle zweiunddreißig haben, und als er die zweiunddreißigste nicht fand, war er unglücklich, und als Oskar sie fand, zwischen zwei wüsten Puppenstuben fand, und ihm reichte, lächelte er, obgleich es Pique Sieben war.
    Als wir den Kobyella aus dem Kinderzimmer geschleppt und endlich auf dem Korridor hatten, fand der Hausmeister die Kraft für einige, Jan Bronski verständliche Worte. »Is noch alles dran?« besorgte sich der Invalide. Jan griff ihm in die Hose zwischen die Altmännerbeine, hatte den Griff voll und nickte dem Kobyella zu.
    Wie waren wir alle glücklich: Kobyella hatte seinen Stolz behalten dürfen, Jan Bronski hatte alle zweiunddreißig Skatkarten inklusive Pique Sieben wiedergefunden, Oskar aber hatte eine neue Blechtrommel, die ihm bei jedem Schritt gegen das Knie schlug, während der durch den Blutverlust geschwächte Hausmeister von Jan und einem, den Jan Viktor nannte, eine Etage tiefer in den Lagerraum für Briefsendungen transportiert wurde.

DAS KARTENHAUS
    Viktor Weluhn half uns beim Transport des trotz zunehmenden Blutverlustes immer schwerer werdenden Hausmeisters. Der stark kurzsichtige Viktor trug zu dem Zeitpunkt noch seine Brille und stolperte nicht auf den Steinstufen im Treppenhaus. Von Beruf war Viktor, was für einen Kurzsichtigen unglaublich klingen mag, Geldbriefträger. Heute nenne ich Viktor, sobald die Rede auf ihn kommt, den armen Viktor. Genau wie meine Mama durch einen Familienspaziergang zur Hafenmole zu meiner armen Mama wurde, wurde der Geldbriefträger Viktor durch den Verlust seiner"
    Brille — es spielten auch andere Gründe mit — zum armen, brillenlosen Viktor.
    »Hast du den armen Viktor wieder einmal gesehen?« frage ich meinen Freund Vittlar an den Besuchstagen. Doch seit jener Straßenbahnfahrt von Flingern nach Gerresheim — es wird davon noch berichtet werden — ist uns Viktor Weluhn verlorengegangen. Es bleibt nur zu hoffen, daß seine Häscher ihn gleichfalls vergeblich suchen, daß er seine Brille oder eine ihm angemessene Brille wiedergefunden hat und womöglich wie einst, wenn auch nicht mehr im Dienste der Polnischen Post, so doch als Geldbriefträger der Bundespost kurzsichtig, aber bebrillt die Leute mit bunten Scheinen und harten Münzen beglückt.
    »Ist das nicht schrecklich«, keuchte Jan, der den Kobyella links gefaßt hatte.
    »Und wie mag es ausgehen, wenn die Engländer und Franzosen nicht kommen?« besorgte sich der rechts mit dem Hausmeister beladene Viktor.
    »Aber sie werden kommen! Rydz-Smigly hat noch gestern im Rundfunk gesagt: >Wir haben die Garantie: wenn es losgeht, steht ganz Frankreich wie ein Mann auf !<« Jan hatte Mühe, seine Sicherheit bis zum Ende des Satzes beizubehalten, denn der Anblick seines eigenen Blutes auf seinem zerkratzten Handrücken stellte zwar nicht den polnisch-französischen Garantievertrag in Frage, ließ aber die Befürchtung zu, Jan könnte verbluten, noch ehe ganz Frankreich wie ein Mann aufstehe und getreu der gegebenen Garantie den Westwall überrenne.
    »Sicher sind sie schon unterwegs. Und die Flotte Englands durchpflügt schon die Ostsee!« Viktor Weluhn liebte starke, nachhallende Ausdrücke, verhielt auf der Treppe, rechts mit dem getroffenen Körper des Hausmeisters behängt, links eine Hand wie auf dem Theater hochwerfend, alle fünf Finger sprechen lassend: »Kommt nur, ihr stolzen Briten!«
    Während die beiden langsam, und immer wieder die polnisch-französisch-englischen Beziehungen erwägend, den Kobyella dem Notlazarett zuführten, blätterte Oskar in Gedanken Gretchen Schefflers Bücher nach diesbezüglichen Stellen durch. Keysers Geschichte der Stadt Danzig: »Während des Deutsch-Französischen Krieges anno siebenzigeinundsiebenzig liefen am Nachmittag des einundzwanzigsten August achtzehnhundertsiebenzig vier französische Kriegsschiffe in die Danziger Bucht ein, kreuzten auf der Reede, richteten schon ihre Geschützrohre gegen Hafen und Stadt, da gelang es während der folgenden Nacht der Schraubenkorvette >Nymphe< unter der Führung des Korvettenkapitäns Weickhmann, den im Putziger Wiek ankernden Flottenverband zum Rückzug zu zwingen.«
    Kurz bevor wir den Lagerraum für Briefsendungen in der ersten Etage erreichten, rang ich mich zu der später bestätigten Ansicht durch: die Home Fleet lag, während die Polnische Post und das ganze flache Polen bestürmt wurden, mehr oder weniger

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