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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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gewagt hatte.
    Ich las die Nachricht des Arztes nicht in der Küche, sondern auf meinem Bett liegend. Zuerst wollte ich enttäuscht sein, denn weder die Anrede noch die abschließende Floskel des Briefes verrieten etwas über das Verhältnis zwischen Arzt und Krankenschwester.
    »Liebes Fräulein Dorothea!« hieß es — und: »Ihr ergebener Erich Werner.«
    Auch fand sich beim Lesen des eigentlichen Schreibens kein einziges betont zärtliches Wort. Werner bedauerte, Schwester Dorothea am Vortage nicht gesprochen zu haben, obgleich er sie vor der Flügeltür zur Männer-Privat-Abteilung gesehen hatte. Aus für Dr. Werner unerklärlichen Gründen machte Schwester Dorothea jedoch kehrt, als sie den Arzt im Gespräch mit Schwester Beate — mit Dorotheas Freundin also — überrascht hatte. Nur bat Dr. Werner um eine Erklärung, denn das Gespräch, das er mit Schwester Beate führte, habe rein dienstlichen Charakter gehabt. Wie sie, Schwester Dorothea, wohl wisse, gebe er sich immer und nach wie vor Mühe, der etwas unbeherrschten Beate gegenüber Distanz zu bewahren. Daß das nicht leicht sei, müsse sie, Dorothea, die ja die Beate kenne, begreifen, weil Schwester Beate oftmals hemmungslos ihre Gefühle zeige, die er, Dr. Werner, freilich niemals erwidere. Der letzte Satz des Briefes besagte: »Glauben Sie mir bitte, daß Ihnen jederzeit die Möglichkeit geboten ist, mich sprechen zu können.« Trotz der Förmlichkeit, Kälte, ja Arroganz jener Zeilen fiel es mir am Ende nicht schwer, den Briefstil des Dr. E. Werner zu entlarven, den Brief als das zu nehmen, was er sein wollte, als einen glühenden Liebesbrief.
    Mechanisch versorgte ich das Blatt im Kuvert, ließ dabei alle Vorsicht außer acht, befeuchtete die Gummierung, die der Werner womöglich mit seiner Zunge benetzt hatte, nun mit Oskars Zunge, begann dann zu lachen, schlug mir kurz darauf, aber immer noch lachend, mit der flachen Hand abwechselnd gegen Stirn und Hinterkopf, bis es mir mitten im Schlagen gelang, die rechte Hand von Oskars Stirn weg auf den Türdrücker meines Zimmers zu legen, die Tür zu öffnen, den Korridor zu gewinnen und den Brief des Dr. Werner halb unter jener Tür zu versorgen, die das mir wohlbekannte Gemach der Schwester Dorothea mit graugestrichenem Holz und Milchglasscheiben verschloß.
    Noch hockte ich auf den Hacken, hatte einen, womöglich zwei Finger auf dem Brief, da hörte ich aus dem Zimmer am anderen Ende des Korridors die Stimme des Herrn Münzer. Jedes Wort seines langsam und wie zum Mitschreiben betonten Ausrufes verstand ich: »Ach, lieber Herr, würden Sie mir bitte etwas Wasser bringen!?«
    Ich richtete mich auf, dachte, der Mensch wird krank sein, erkannte aber gleichzeitig, daß der Mensch hinter der Tür nicht krank war, daß Oskar sich nur diese Krankheit einredete, um den Grund zum Wasserbringen zu haben, denn ein bloßer, durch nichts motivierter Zuruf hätte mich niemals ins Zimmer eines wildfremden Menschen locken können.
    Zuerst wollte ich ihm jenes noch laue Wasser im Aluminiumtopf bringen, das mir geholfen hatte, den Brief des Arztes zu öffnen. Dann jedoch schüttete ich das gebrauchte Wasser in den Spülstein, ließ frisches in den Topf springen und trug Topf und Wasser vor jene Tür, hinter der die nach mir und dem Wasser, vielleicht auch nur nach dem Wasser verlangende Stimme des Herrn Münzer wohnen mußte.
    Oskar klopfte, trat ein und stieß sofort gegen den für Klepp so bezeichnenden Geruch. Wenn ich die Ausdünstung säuerlich nenne, verschweige ich ihre gleichfalls stark süße Substanz. Nichts hatte zum Beispiel die Luft um Klepp mit der Essigluft der Krankenschwesterkammer gemeinsam. Süßsauer zu sagen, wäre auch falsch. Jener Herr Münzer oder Klepp, wie ich ihn heute nenne, ein dicklich fauler, trotzdem nicht unbeweglicher, leicht schwitzender, abergläubischer, ungewaschener, dennoch nicht verkommener, stets am Sterben verhinderter Flötist und Jazzklarinettist hatte und hat den Geruch einer Leiche an sich, die nicht aufhören kann, Zigaretten zu rauchen, Pfefferminz zu lutschen und Knoblauchdünste auszuscheiden. So roch er schon damals, so riecht, atmet er auch heute und fällt, Lebenslust und Vergänglichkeit in der Witterung mitführend, an den Besuchstagen über mich her und zwingt Bruno, sogleich nach seinem umständlichen, Wiederkehr verheißenden Abgang, Fenster und Türen aufzureißen, Durchzug zu veranstalten.
    Heute ist Oskar bettlägerig. Damals, in Zeidlers Wohnung, fand ich

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