Die Blechtrommel
Herr Fajngold seine Desinfektionsmittel über meinem Fieber zerstäubte. Ach, und der Katholizismus der Herz-Jesu-Kirche, diese vielen unausgelüfteten Kleider, der kalte Staub, und ich vor dem linken Seitenaltar verlieh meine Trommel, an wen?
Dennoch war es nur ein Rolltreppeneinfall. Heute will man mich festnageln, sagt: Du bist dreißig.
Folglich mußt du Jünger sammeln. Denk mal zurück, was du sagtest, als man dich verhaftete. Zähle die Kerzen um deinen Geburtstagskuchen, verlasse dein Bett und sammle Jünger. Dabei bieten sich einem Dreißigjährigen so viele Möglichkeiten. So könnte ich, zum Beispiel, falls man mich wirklich aus der Anstalt vertreibt, Maria einen zweiten Heiratsantrag machen. Entschieden mehr Chancen hätte ich heute. Oskar hat ihr das Geschäft eingerichtet, ist bekannt, verdient weiterhin gut mit seinen Schallplatten, ist inzwischen reifer, älter geworden. Mit dreißig sollte man heiraten! Oder aber, ich bleibe ledig, wähle mir einen meiner Berufe, kaufe einen guten Muschelkalkbruch, stelle Steinmetze ein, arbeite direkt, frisch vom Bruch für den Bau. Mit dreißig sollte man eine Existenz gründen! Oder aber — falls mich die vorfabrizierten Fassadenstücke auf die Dauer anöden — ich suche die Muse Ulla auf, diene mit ihr und an ihrer Seite den schönen Künsten als anregendes Modell. Womöglich eheliche ich sie sogar eines Tages, die so oft und kurzfristig verlobte Muse. Mit dreißig sollte man heiraten! Oder aber, falls ich europamüde werde, wandere ich aus, Amerika, Buffalo, mein alter Traum: ich suche meinen Großvater, den Millionär und ehemaligen Brandstifter Joe Colchic, vormals Joseph Koljaiczek. Mit dreißig sollte man seßhaft werden! Oder aber, ich gebe nach, lasse mich festnageln, gehe hinaus, nur weil ich dreißig bin, und mime ihnen den Messias, den sie in mir sehen, mache, gegen besseres Wissen, aus meiner Trommel mehr, als die darzustellen vermag, laß die Trommel zum Symbol werden, gründe eine Sekte, Partei oder auch nur eine Loge.
Trotz Liebespaar über mir und Frau mit Hut unter mir, überfiel mich dieser Rolltreppeneinfall. Sagte ich schon, daß das Liebespaar zwei Stufen, nicht eine Stufe über mir stand, daß ich zwischen mich und das Liebespaar meinen Koffer stellte? Die jungen Leute in Frankreich sind höchst sonderbar. So knöpfte sie ihm, während uns alle die Rolltreppe hinauftrug, die Lederjacke, dann das Hemd auf und hantierte seine nackte achtzehnjährige Haut. Das tat sie aber so geschäftig und mit solch praktischen, völlig unerotischen Bewegungen, daß mir schon der Verdacht kam: die jungen Leute lassen sich von offizieller Seite bezahlen, demonstrieren auf offener Straße die Liebestollheit, damit Frankreichs Metropole nicht ihren Ruf verliert. Als das Paar sich jedoch küßte, verlor sich mein Verdacht: fast erstickte er an ihrer Zunge, litt immer noch unter einem Hustenanfall, als ich schon meine Zigarette ausknipste, um den Kriminalbeamten als Nichtraucher begegnen zu können. Die alte Frau unter mir und ihrem Hut — das heißt der Hut hielt sich in meiner Kopfhöhe, weil meine Körpergröße den Höhenunterschied der beiden Rolltreppenstufen ausglich — tat nichts Auffallendes, wenn sie auch ein bißchen murmelte, vor sich hin schimpfte; aber das tun schließlich viele alte Leute in Paris. Das gummibelegte Geländer der Rolltreppe fuhr mit uns hinauf. Man konnte die Hand drauflegen und die Hand mitfahren lassen. Das hätte ich auch getan, wenn ich Handschuhe auf die Reise mitgenommen hätte. Die Kacheln des Treppenhauses spiegelten alle ein Tröpfchen elektrisches Licht. Rohre und dickleibige Kabelbündel begleiteten cremefarben unsere Auffahrt. Nicht etwa, daß die Rolltreppe einen Höllenlärm machte. Eher gemütlich gab sie sich, trotz ihrer mechanischen Natur.
Trotz des klapprigen Verses von der schrecklichen Schwarzen Köchin wollte mir die Metrostation Maison Blanche heimelig, fast wohnlich vorkommen. Ich fühlte mich auf der Rolltreppe wie zu Hause, hätte mich glücklich geschätzt, trotz Angst und Kinderschreck, wenn es mit mir nicht wildfremde Menschen, sondern meine lebenden und toten Freunde und Verwandten hinaufgetragen hätte: meine arme Mama zwischen Matzerath und Jan Bronski, die grauhaarige Maus, Mutter Truczinski mit ihren Kindern Herbert, Guste, Fritz, Maria, auch den Gemüsehändler Greff und seine Schlampe Lina, natürlich den Meister Bebra und die grazile Roswitha — alle die da meine fragwürdige Existenz
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