Die Blechtrommel
zeigte. Rasputins Tod ging mir nach: man hat ihn mit vergifteter Torte, vergiftetem Wein vergiftet, dann, als er mehr von der Torte wollte, mit Pistolen erschossen, und als ihn das Blei in der Brust tanzlustig stimmte, gefesselt und in einem Eisloch der Newa versenkt. Das taten alles männliche Offiziere. Die Damen der Metropole Petersburg hätten ihrem Väterchen Rasputin niemals giftige Torte, sonst aber alles gegeben, was er von ihnen verlangte. Die Frauen glaubten an ihn, während die Offiziere ihn erst aus dem Weg räumen mußten, um wieder an sich selbst glauben zu können.
War es ein Wunder, daß nicht nur ich Gefallen am Leben und Ende des athletischen Gesundbeters fand? Das Gretchen tastete sich wieder zur Lektüre ihrer ersten Ehejahre zurück, löste sich während des lauten Vorlesens gelegentlich auf, zitterte, wenn das Wörtchen Orgie fiel, hauchte das Zauberwort Orgie besonders, war, wenn sie Orgie sagte, zur Orgie bereit und konnte sich dennoch unter einer Orgie keine Orgie vorstellen.
Schlimm wurde es, wenn Mama in den Kleinhammerweg mitkam und in der Wohnung über der Bäckerei meinem Unterricht beiwohnte. Das artete manchmal zur Orgie aus, das wurde Selbstzweck und kein Unterricht für Klein-Oskar mehr, das gab bei jedem dritten Satz zweistimmiges Gekicher, das ließ die Lippen trocken und rissig werden, das rückte die beiden verheirateten Frauen, wenn Rasputin es nur wollte, immer näher zusammen, das machte sie unruhig auf Sofakissen, das brachte sie auf den Gedanken, die Schenkel zusammenzupressen, da wurde aus anfänglichem Gekalber schlußendliches Seufzen, da hatte man nach zwölf Seiten Rasputinlektüre, was man vielleicht gar nicht gewollt, kaum erwartet hatte, aber am hellen Nachmittag gerne mitnahm, wogegen Rasputin sicher nichts einzuwenden gehabt hätte, was er vielmehr gratis und bis in alle Ewigkeit austeilen wird.
Schließlich, wenn beide Frauen achgottachgott gesagt hatten und sich verlegen in den verrutschten Frisuren nestelten, gab Mama zu bedenken: »Ob Oskarchen auch wirklich nichts davon versteht?«
»Aber wo doch«, beschwichtigte dann das Gretchen, »ich geb' mir ja soviel Mühe, aber er lernt und lernt nich', und Lesen wird er wohl nie lernen.«
Um von meiner durch nichts zu erschütternden Unwissenheit Zeugnis abzulegen, fügte sie noch dazu:
»Stell dir nur vor, Agnes, die Seiten reißt er aus unserem Rasputin raus, zerknüllt sie und nachher sind sie weg. Manchmal möcht' ich es aufgeben. Aber wenn ich dann seh', wie glücklich er ist überm Buch, laß ich ihn reißen und kaputtmachen. Ich hab Alex schon gesagt, er soll uns'n neuen Rasputin auf Weihnachten schenken.«
Es gelang mir also — Sie werden es bemerkt haben — nach und nach, im Verlauf von drei oder vier Jahren — so lange und noch länger unterrichtete mich das Gretchen Scheffler — über die Hälfte der Buchseiten aus dem Rasputin herauszutrennen, vorsichtig, dabei Mutwillen vortäuschend, zu zerknüllen, um dann hinterher, zu Hause, in meiner Trommlerecke, die Blätter unter dem Pullover hervorzuziehen, sie geglättet und gestapelt zur heimlichen, von Frauen ungestörten Lektüre zu verwenden. Ähnlich verfuhr ich mit dem Goethe, den ich anläßlich jeder vierten Unterrichtsstunde, »Döte« rufend, dem Gretchen abforderte. Allein auf Rasputin wollte ich mich nicht verlassen, denn allzubald wurde mir klar, daß auf dieser Welt jedem Rasputin ein Goethe gegenübersteht, daß Rasputin Goethe oder der Goethe einen Rasputin nach sich zieht, sogar erschafft, wenn es sein muß, um ihn hinterher verurteilen zu können.
Wenn Oskar mit seinem ungebundenen Buch auf dem Dachboden oder im Schuppen des alten Herrn Heilandt hinter Fahrradgestellen hockte und die losen Blätter der Wahlverwandtschaften mit einem Bündel Rasputin mischte, wie man Karten mischt, las er das neu entstandene Buch mit wachsendem, aber gleichwohl lächelndem Erstaunen, sah Ottilie züchtig an Rasputins Arm durch mitteldeutsche Gärten wandeln und Goethe mit einer ausschweifend adligen Olga im Schlitten sitzend durchs winterliche Petersburg von Orgie zu Orgie schlittern.
Doch noch einmal zurück in meine Schulstube am Kleinhammerweg. Das Gretchen hatte, auch wenn ich keine Fortschritte zu machen schien, die mädchenhafteste Freude an mir. Sie blühte in meiner Nähe, auch unter der segnenden, zwar unsichtbaren, aber dennoch behaarten Hand des russischen Gesundbeters mächtig, selbst ihre Zimmerlinden und Kakteen mitreißend, auf.
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