Die Blechtrommel
Seemannstod gefunden hatte. Sieben oder acht Bände Köhlers Flottenkalender voller Schiffe, die längst gesunken waren, die Dienstgrade der kaiserlichen Marine, Paul Benecke, der Seeheld — das durfte wohl kaum die Speise gewesen sein, nach der Gretchens Herz verlangte. Erich Keysers Geschichte der Stadt Danzig und jener Kampf um Rom, den ein Mann namens Felix Dahn mit Hilfe von Totila und Teja, Belisar und Narses geführt haben mußte, hatten wohl gleichfalls unter den Händen des zur See gefahrenen Bruders an Glanz und Buchrückenhalt verloren. Gretchens Büchergestell sprach ich ein Buch zu, das über Soll und Haben abrechnete, und etwas über Wahlverwandtschaften von Goethe sowie den reichbebilderten dicken Band: Rasputin und die Frauen.
* Nach längerem Zögern — die Auswahl war zu klein, als daß ich mich hätte schnell entscheiden mögen — griff ich, ohne zu wissen, was ich griff, nur dem bekannten inneren Stimmchen gehorchend, zuerst den Rasputin und dann den Goethe.
Dieser Doppelgriff sollte mein Leben, zumindest jenes Leben, welches abseits meiner Trommel zu führen ich mir anmaßte, festlegen und beeinflussen. Bis zum heutigen Tage — da Oskar die Bücherei der Heil-und Pflegeanstalt bildungsbeflissen nach und nach in sein Zimmer lockt — schwanke ich, auf Schiller und Konsorten pfeifend, zwischen Goethe und Rasputin, zwischen dem Gesundbeter und dem Alleswisser, zwischen dem Düsteren, der die Frauen bannte, und dem lichten Dichterfürsten, der sich so gern von den Frauen bannen ließ. Wenn ich mich zeitweilig mehr dem Rasputin zugehörig betrachtete und Goethes Unduldsamkeit fürchtete, lag das an dem leisen Verdacht: der Goethe hätte, hättest du, Oskar, zu seiner Zeit getrommelt, in dir nur Unnatur erkannt, dich als leibhaftige Unnatur verurteilt und seine Natur — die du schließlich' immer, selbst wenn sie sich noch so unnatürlich spreizte, bewundert und angestrebt hast — sein Naturell hätte er mit übersüßem Konfekt gefüttert und dich armen Tropf wenn nicht mit dem Faust dann mit einem dicken Band seiner Farbenlehre erschlagen.
Doch zurück zu Rasputin. Er hat mir mit Gretchen Schefflers Hilfe das kleine und große ABC beigebracht, hat mich gelehrt, die Frauen aufmerksam zu behandeln, und hat mich getröstet, wenn Goethe mich kränkte.
Es war gar nicht so einfach, das Lesen zu lernen und dabei den Unwissenden zu spielen. Das sollte mir schwerer fallen als das jahrelange Vortäuschen eines kindlichen Bettnässens. Galt es beim Bettnässen doch, allmorgendlich einen Mangel zu demonstrieren, der mir im Grunde entbehrlich gewesen wäre.
Den Unwissenden spielen, hieß jedoch für mich, mit meinen rapiden Fortschritten hinter dem Berg zu halten, einen ständigen Kampf mit beginnender intellektueller Eitelkeit zu führen. Daß die Erwachsenen in mir einen Bettnässer sahen, nahm ich innerlich achselzuckend hin, daß ich ihnen aber jahraus, jahrein als Dummerjan herhalten mußte, kränkte Oskar und auch seine Lehrerin.
Gretchen begriff, sobald ich. die Bücher aus der Babywäsche gerettet hatte, auf der Stelle und heiter jauchzend ihren Lehrberuf. Es gelang mir, die gänzlich verstrickte Kinderlose aus ihrer Wolle zu locken und beinahe glücklich zu machen. Eigentlich hätte sie es lieber gesehen, wenn ich Soll und Haben zu meinem Schulbuch gemacht hätte; aber ich bestand auf Rasputin und wollte Rasputin, als sie zur zweiten Unterrichtsstunde ein richtiges Büchlein für ABC-Schüt-zen gekauft hatte, und entschloß mich endlich zum Sprechen, als sie mir immer wieder mit Bergbauerromanen, Märchen wie Zwerg Nase und Däumeling kam. »Rapupin!« schrie ich oder auch: »Rasdvuschin!« Zeitweilig tat ich ganz und gar albern: »Raschu, Raschu!« hörte man Oskar plappern, damit das Gretchen einerseits begriff, welche Lektüre mir angenehm war, andererseits aber im unklaren blieb über sein erwachendes, Buchstaben pickendes Genie.
Ich lernte rasch, regelmäßig, ohne mir viel dabei zu denken. Nach einem Jahr fühlte ich mich in Petersburg, in den Privatgemächern des Selbstherrschers aller Russen, im Kinderzimmer des immer kränklichen Zarewitsch, zwischen Verschwörern und Popen und nicht zuletzt als Augenzeuge Rasputinscher Orgien wie zu Hause. Das hatte ein mir zusagendes Kolorit, da ging es um eine zentrale Figur. Das sagten auch die im Buch verstreuten zeitgenössischen Stiche, die den bärtigen Rasputin mit den Kohleaugen inmitten schwarze Strümpfe tragender, sonst nackter Damen
Weitere Kostenlose Bücher