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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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dieselben Tauben eine Drehung der Wendeltreppe höher wieder an, setzte abermals rechts vor, um links nachzuziehen, und als Oskar nach weiterem Wechsel der Beine oben war, hätte er noch lange so weiter steigen mögen, obgleich ihm das rechte wie linke Bein schwer waren. Aber die Treppe hatte es vorzeitig aufgegeben. Er erfaßte den Unsinn und die Ohnmacht des Turmbaues.
    Ich weiß nicht, wie hoch der Stockturm war und noch ist, denn er überdauerte den Krieg. Auch habe ich keine Lust, meinen Pfleger Bruno um ein Nachschlagewerk über ostdeutsche Backsteingotik zu bitten. Ich schätze, er wird bis zur Turmspitze gut und gerne seine fünfundvierzig Meter gehabt haben.
    Ich, und das lag an der zu schnell ermüdenden Wendeltreppe, hatte auf einer Galerie haltmachen müssen, die den Turmhelm umlief. Ich setzte mich, schob die Beine zwischen die Säulchen der Balustrade, beugte mich vor und blickte an einer Säule, die ich mit dem rechten Arm umklammert hielt, vorbei und hinunter auf den Kohlenmarkt, während ich mich links meiner Trommel vergewisserte, die den ganzen Aufstieg mitgemacht hatte.
    Ich will Sie nicht mit der Beschreibung eines vieltürmigen, mit Glocken läutenden, altehrwürdigen, angeblich noch immer vom Atem des Mittelalters durchwehten, auf tausend guten Stichen abgebildeten Panoramas, mit der Vogelschau der Stadt Danzig langweilen. Gleichfalls lasse ich mich nicht auf die Tauben ein, auch wenn es zehnmal heißt, über Tauben könne man gut schreiben. Mir sagt eine Taube so gut wie gar nichts, eine Möwe schon etwas mehr. Der Ausdruck Friedenstaube will mir nur als Paradox stimmen. Eher würde ich einem Habicht oder gar Aasgeier eine Friedensbotschaft anvertrauen als der Taube, der streitsüchtigsten Mieterin unter dem Himmel. Kurz und gut: auf dem Stockturm gab es Tauben. Aber Tauben gibt es schließlich auf jedem anständigen Turm, der mit Hilfe seiner ihm zustehenden Denkmalpfleger auf sich hält.
    Auf etwas ganz anderes hatte es mein Blick abgesehen: auf das Gebäude des Stadttheaters, das ich, aus der Zeughauspassage kommend, verschlossen gefunden hatte. Der Kasten zeigte mit seiner Kuppel eine verteufelte Ähnlichkeit mit einer unvernünftig vergrößerten, klassizistischen Kaffeemühle, wenn ihm auch am Kuppelknopf jener Schwengel fehlte, der nötig gewesen wäre, in einem allabendlich vollbesetzten Musen-und Bildungstempel ein fünfaktiges Drama samt Mimen, Kulissen, Souffleuse, Requisiten und allen Vorhängen zu schaurigem Schrot zu mahlen. Mich ärgerte dieser Bau, von dessen säulenflankierten Foyerfenstern eine absackende und immer mehr Rot auftragende Nachmittagssonne nicht lassen wollte.
    Zu jener Stunde, etwa dreißig Meter über dem Kohlenmarkt, über Straßenbahnen und Büroschluß feiernden Angestellten, hoch überm süßriechenden Ramschladen des Markus, über den kühlen Marmortischchen des Cafe Weitzke, zwei Tassen Mokka, Mama und Jan Bronski überragend, auch unser Mietshaus, den Hof, die Höfe, verbogene und gerade Nägel, die Kinder der Nachbarschaft und deren Ziegelsuppe unter mir lassend, wurde ich, der ich bislang nur aus zwingenden Gründen geschrien hatte, zu einem Schreier ohne Grund und Zwang. Hatte ich bis zur Besteigung des Stockturmes meine dringlichen Töne nur dann ins Gefüge eines Glases, ins Innere der Glühbirnen, in eine abgestandene Bierflasche geschickt, wenn man mir meine Trommel nehmen wollte, schrie ich vom Turm herab, ohne daß meine Trommel im Spiel war.
    Niemand wollte Oskar die Trommel nehmen, trotzdem schrie er. Nicht etwa, daß ihm eine Taube ihren Dreck auf die Trommel geworfen hätte, um ihm einen Schrei abzukaufen. In der Nähe gab es zwar Grünspan auf Kupferplatten, aber kein Glas; Oskar schrie trotzdem. Die Tauben hatten rötlich blanke Augen, aber kein Glasauge äugte ihn an; dennoch schrie er. Wohin schrie er, welche Distanz lockte ihn? Sollte, was auf dem Dachboden, nach dem Genuß der Ziegelmehlsuppe planlos über Höfe hinweg versucht wurde, hier zielstrebig demonstriert werden? Welches Glas meinte Oskar? Mit welchem Glas — und es kam ja nur Glas in Frage — wollte Oskar Experimente anstellen?
    Es war das Theater der Stadt, die dramatische Kaffeemühle, die meine neuartigen, erstmals auf unserem Dachboden ausprobierten, ich möchte sagen, ans Manierierte grenzenden Töne in ihre Abendsonnenfensterscheiben lockte. Nach wenigen Minuten verschieden geladenen Geschreis, das jedoch nichts ausrichtete, gelang mir ein nahezu lautloser Ton, und

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