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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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klemmte sich fast im Klappmechanismus, schrie aber im Vergleich zu den anderen Schreihälsen um uns herum noch erträglich und kurzfristig, weil ihr Mama den törichten Kindermund mit Bonbons stopfte. Lutschend und durch die Rutscherei auf dem Polster vorzeitig ermüdet, schlief Stephans kleine Schwester kurz nach Vorstellungsbeginn ein, mußte nach den Aktschlüssen fürs Klatschen, was sie auch fleißig besorgte, geweckt werden.
    Es wurde das Märchen vom Däumeling gegeben, was mich von der ersten Szene an fesselte und verständlicherweise persönlich ansprach. Man machte es geschickt, zeigte den Däumeling gar nicht, ließ nur seine Stimme hören und die erwachsenen Personen hinter dem unsichtbaren, aber recht aktiven Titelhelden des Stücks herspringen. Da saß er dem Pferd im Ohr, da ließ er sich vom Vater für schweres Geld an zwei Strolche verkaufen, da erging er sich auf des einen Strolches Hutkrempe, sprach von dort oben herab, kroch später in ein Mauseloch, dann in ein Schneckenhaus, machte mit Dieben gemeinsame Sache, geriet ins Heu und mit dem Heu in den Magen der Kuh. Die Kuh aber wurde geschlachtet, weil sie mit Däumelings Stimme sprach. Der Magen der Kuh aber wanderte mit dem gefangenen Kerlchen auf den Mist und wurde von einem Wolf verschluckt. Den Wolf aber lenkte Däumeling mit klugen Worten in seines Vaters Haus und Vorratskammer und schlug dort Lärm, als der Wolf zu rauben gerade beginnen wollte. Der Schluß war, wie's im Märchen zugeht: der Vater erschlug den bösen Wolf, die Mutter öffnete mit einer Schere Leib und Magen des Freßsacks, heraus kam Däumeling, das heißt, man hörte ihn nur rufen: »Ach, Vater, ich war in einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst: nun bleib ich bei Euch.«Mich rührte dieser Schluß, und als ich zu Mama hinaufblinzelte, bemerkte ich, daß sie die Nase hinter dem Taschentuch barg, weil sie gleich mir die Handlung auf der Bühne zum eigensten Erlebnis gemacht hatte. Mama ließ sich gerne rühren, drückte mich während der folgenden Wochen, vor allen Dingen, solange das Weihnachtsfest dauerte, immer wieder an sich, küßte mich und nannte Oskar bald scherzhaft, bald wehmütig:
    Däumling. Oder: Mein kleiner Däumling. Oder: Mein armer, armer Däumling.
    Erst im Sommer dreiunddreißig sollte ich wieder Theater geboten bekommen. Durch ein Mißverständnis meinerseits ging die Sache zwar schief, beeindruckte mich aber nachwirkend. So tönt und wogt es noch heute in mir, denn es ereignete sich in der Waldoper Zoppot, wo unter freiem Nachthimmel Sommer für Sommer Wagnermusik der Natur anvertraut wurde.
    An sich hatte nur Mama etwas für Opern übrig. Für Matzerath waren selbst Operetten zu viel. Jan richtete sich nach Mama", schwärmte für Arien, obgleich er trotz seines musikalischen Aussehens vollkommen harthörig für schöne Klänge war. Dafür kannte er aber die Brüder Formella, ehemalige Mitschüler aus der Mittelschule Karthaus, die in Zoppot wohnten, die Beleuchtung des Seesteges, des Springbrunnens vor dem Kurhaus und Kasino unter sich hatten und gleichfalls als Beleuchter bei den Festspielen in der Waldoper wirkten.
    -Der Weg nach Zoppot führte über Oliva. Ein Vormittag im Schloßpark. Goldfische, Schwäne, Mama und Jan Bronski in der berühmten Flüstergrotte. Dann wieder Goldfische und Schwäne, die Hand in Hand mit einem Fotografen arbeiteten. Matzerath ließ mich, während die Aufnahme gemacht wurde, auf den Schultern reiten. Ich stützte die Trommel auf seinen Scheitel, was allgemein, auch später, als das Bildchen schon im Fotoalbum klebte, Gelächter hervorrief. Abschied von Goldfischen, Schwänen, von der Flüstergrotte. Nicht nur im Schloßpark war Sonntag, auch vor dem Eisengitter und in der Straßenbahn nach Glettkau und im Kurhaus Glettkau, wo wir zu Mittag aßen, während die Ostsee unentwegt, als hätte sie nichts anderes zu tun, zum Baden einlud, überall war Sonntag. Als uns die Strandpromenade nach Zoppot führte, kam uns der Sonntag entgegen, und Matzerath mußte für alle Kurtaxe zahlen.
    Wir badeten im Südbad, weil es dort angeblich leerer als im Nordbad war. Die Herren zogen sich im Herrenbad um, Mama führte mich in eine Zelle des Damenbades, verlangte von mir, daß ich mich nackt im Familienbad zeigte, während sie, die damals schon üppig über die Ufer trat, ihr Fleisch in ein strohgelbes Badekostüm goß. Um dem tausendäugigen Familienbad nicht allzu bloß zu begegnen, hielt ich mir meine Trommel

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