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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ich bis zu diesem Tage anfassen dürfen, das gleich hart, gleich empfindlich und gleich verwirrend war wie die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken? Es sind dieses die Teile einiger Mädchen und Frauen, mein eigenes Glied, das gipserne Gießkännchen des Jesusknaben und jener Ringfinger, den mir vor knapp zwei Jahren der Hund aus dem Roggenfeld brachte, den ich vor einem Jahr noch hüten durfte, in einem Einmachglas zwar und unantastbar, dennoch so deutlich und vollzählig, daß ich jetzt noch jedes Glied des Fingers spüren und abzählen kann, wenn ich nur zu meinen Trommelstöcken greife. Immer wenn ich mich an die Narben auf Herbert Truczinskis Rücken erinnern wollte, saß ich trommelnd, also trommelnd dem Gedächtnis nachhelfend, vor dem Weckglas mit dem Finger. Immer wenn ich, was selten genug vorkam, dem Körper einer Frau nachging, erfand ich mir, von den narbenähnlichen Teilen einer Frau nicht ausreichend überzeugt, Herbert Truczinskis Narben.
    Aber genau so gut könnte ich sagen: Die ersten Berührungen jener Wülste auf dem weiten Rücken des Freundes verhießen mir schon damals Bekanntschaft und zeitweiligen Besitz jener Verhärtungen, die zur Liebe bereite Frauen kurzfristig an sich haben. Gleichfalls versprachen mir die Zeichen auf Herberts Rücken zu jenem frühen Zeitpunkt schon den Ringfinger, und bevor mir Herberts Narben Versprechungen machten, waren es die Trommelstöcke, die mir vom dritten Geburtstag an die Narben, Fortpflanzungsorgane und endlich den Ringfinger versprachen. Doch muß ich noch weiter zurückgreifen: schon als Embryo, als Oskar noch gar nicht Oskar hieß, verhieß mir das Spiel mit meiner Nabelschnur nacheinander die Trommelstöcke, Herberts Narben, die gelegentlich aufbrechenden Krater jüngerer und älterer Frauen, schließlich den Ringfinger und immer wieder, vom Gießkännchen des Jesusknaben an, mein eigenes Geschlecht, das ich unentwegt, wie das launenhafte Denkmal meiner Ohnmacht und begrenzten Möglichkeiten, bei mir trage.
    Heute bin ich wieder bei den Trommelstöcken angelangt. An Narben, Weichteile, an meine eigene, nur noch dann und wann starktuende Ausrüstung erinnere ich mich allenfalls über den Umweg, den meine Trommel vorschreibt. Dreißig muß ich werden, um meinen dritten Geburtstag abermals feiern zu können. Sie werden es erraten haben: Oskars Ziel ist die Rückkehr zur Nabelschnur; alleine deshalb der ganze Aufwand und das Verweilen bei Herbert Truczinskis Narben.
    Bevor ich weiterhin des Freundes Rücken beschreibe und deute, schicke ich voraus, daß sich, bis auf eine Bißwunde am linken Schienbein, die ihm eine Prostituierte aus Ohra hinterlassen hatte, auf der Vorderseite seines mächtigen, kaum zu schützenden, also zielbreiten Körpers keine Narben befanden.
    Nur von hinten konnten sie gegen ihn an. Nur von hinten war er zu erreichen, nur seinen Rücken zeichneten die finnischen und polnischen Messer, die Poggenkniefe der Stauer von der Speicherinsel, die Segelmesser der Kadetten von den Schulschiffen.
    Wenn Herbert zu Mittag gegessen hatte — dreimal in der Woche gab es Kartoffelflinsen, die niemand so dünn, fettarm und dennoch knusprig wie Mutter Truczinski backen konnte — wenn Herbert also den Teller zur Seite schob, reichte ich ihm die »Neuesten Nachrichten«. Er ließ die Hosenträger herunter, pellte sich das Hemd ab und ließ mich, während er las, seinen Rücken befragen. Auch Mutter Truczinski saß während dieser Fragestunden meistens am Tisch, ribbelte die Wolle alter Strümpfe auf, machte zustimmende oder abfällige Bemerkungen und versäumte nicht, von Zeit zu Zeit auf den — wie man annehmen kann — schrecklichen Tod jenes Mannes hinzuweisen,der fotografiert und retouschiert hinter Glas, Herberts Bett gegern über, an der Wand hing.
    Die Befragung begann, indem ich mit dem Finger auf eine der Narben tippte. Manchmal tippte ich auch mit einem meiner Trommelstöcke.
    »Drück nochmal, Jung. Ich weiß nich, welche. Die scheint heut' zu schlafen.« Dann drückte ich nochmals, nachdrücklicher.
    »Ach die! Das war'n Ukrainer. Der hatte es mit einem aus Gdingen. Zuerst saßen sie wie de Brieder an einem Tisch. Und denn sagte der aus Gdingen zu dem anderen: Ruski. Das vätrug der Ukrainer nich, der alles megliche nur kein Ruski nich sein wollt'. Mit Holz warrer de Weichsel runterjekommen und vorher noch paar andere Flüsse, und nu hatter ne Menge Geld im Stiebel und hält' auch schon den halben Stiebel voll beim Starbusch rundenweise

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