Die Blechtrommel
Hauptbahnhof. Immer noch unverheiratet wohnte sie wie alles Personal des erstklassigen Hotels im oberen Stockwerk des Eden-Hochhauses. Herbert endlich, der Älteste, der als einziger bei seiner Mutter wohnte — wenn man von gelegentlichen Übernachtungen des Monteurs Fritz absehen will —, arbeitete als Kellner in der Hafenvorstadt Neufahrwasser. Von ihm soll hier die Rede sein. Denn Herbert Truczinski wurde nach dem Tod meiner armen Mama, eine kurze glückliche Zeit lang, das Ziel meiner Anstrengungen; noch heute nenne ich ihn meinen Freund.
Herbert kellnerte bei Starbusch. So hieß der Wirt, dem die Kneipe »Zum Schweden« gehörte.
Gegenüber der protestantischen Seemannskirche lag die, und die Gäste der Kneipe waren — wie die Inschrift »Zum Schweden« leicht erraten läßt — zumeist Skandinavier. Doch kamen auch Russen, Polen aus dem Freihafen, Stauer vom Holm und Matrosen der gerade zum Besuch eingelaufenen reichsdeutschen Kriegsschiffe. Es war nicht ungefährlich, in dieser wahrhaft europäischen Kneipe zu kellnern. Nur die auf der »Reitbahn Ohra« gesammelten Erfahrungen — Herbert hatte in jenem drittrangigen Tanzlokal gekellnert, bevor er nach Fahrwasser ging — befähigten ihn, über dem im »Schweden« brodelnden Sprachgewirr sein mit englischen und polnischen Brocken versetztes Vorstadtplatt dominieren zu lassen. Dennoch brachte ihn gegen seinen Willen, dafür gratis, ein-bis zweimal im Monat ein Sanitätsauto nach Hause.
Herbert mußte dann auf dem Bauch liegen, schwer atmen, denn er wog an die zwei Zentner, und einige Tage sein Bett belasten. Mutter Truczinski schimpfte an solchen Tagen in einem Stück, während sie gleich unermüdlich für sein Wohl sorgte, dabei mit einer aus dem Dutt gezogenen Stricknadel jedesmal, nachdem sie ihm den Verband erneuert hatte, gegen ein verglastes Bildnis seinem Bett gegenüber tippte, das einen ernst und starr blickenden, fotografierten und retouschierten, schnauzbärtigen Mann darstellte, der einem Teil jener Schnauzbärte glich, die auf den ersten Seiten meines Fotoalbums wohnen.
Jener Herr, auf den die Stricknadel der Mutter Truczinski wies, war jedoch kein Mitglied meiner Familie, sondern Herberts, Gustes, Fritzens und Marias Vater.
»Du endest noch mal wie dein Vater jeendet is«, stichelte sie dem schwer atmenden, aufstöhnenden Herbert ins Ohr. Doch nie sagte sie deutlich, wie und wo jener Mann im schwarzen Lackrahmen sein Ende gefunden oder womöglich gesucht hatte.»Wä warres denn diesmal?« wollte die grauhaarige Maus über verschränkten Armen wissen.
»Schweden und Norske, wie immer«, wälzte sich Herbert, und das Bett krachte.
»Wie immer, wie immer! Tu bloß nich so, als wenn es immer nur die wären. Letztes Mal waren es welche von dem Schulschiff, wie heißtes schon, nu sag doch, na, vonne >Schlageter<, was hab ich gesagt, und du redst mir von Schwedens und Norske!«
Herberts Ohr — ich sah sein Gesicht nicht — wurde rot bis hinter die Ränder: »Diese Heinis, immer die Fresse aufreißen und dicken Mann markieren!«
»Laß sie doch, die Jungs. Was jeht das dich an. Inne Stadt, wenn man se sieht, wenn se Ausgang haben, sehen se immer ordentlich aus. Hast sie wohl wieder von deine Ideen mit Lenin erzählt, oder hast dir im spanischen Birjerkriech reingemischt?«
Herbert gab keine Antwort mehr, und Mutter Truczinski schlorrte in die Küche zu ihrem Malzkaffee.
Sobald Herberts Rücken ausgeheilt war, durfte ich ihn ansehen. Er saß dann auf dem Küchenstuhl, ließ die Hosenträger über die blaubetuchten Schenkel fallen, streifte sich langsam, als ließen ihn schwierige Gedanken zögern, das Wollhemd ab.
Der Rücken war rund, beweglich. Muskeln wanderten unermüdlich. Eine rosige Landschaft, mit Sommersprossen besät. Unterhalb der Schulterblätter wucherte fuchsiges Haar beiderseits der im Fett eingebetteten Wirbelsäule. Abwärts kräuselte es, bis es in jenen Unterhosen verschwand, die Herbert auch im Sommer trug. Aufwärts, vom Rand der Unterhosen bis zu den Halsmuskeln bedeckten den Rücken wulstige, den Haarwuchs unterbrechende, Sommersprossen tilgende, Falten ziehende, bei Wetterumschlag juckende, vielfarbige, vom Blauschwarz bis zum grünlichen Weiß abgestufte Narben.
Diese Narben durfte ich anfassen.
Was habe ich, der ich zu Bett liege, aus dem Fenster blicke, die Wirtschaftsgebäude der Heil-und Pflegeanstalt und den darunterliegenden Oberrather Wald seit Monaten betrachte und dennoch gründlich übersehe, was habe
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