Die Blendende Klinge
Er kicherte. »Wir haben fünfzigtausend Flüchtlinge, die sicher niemand will; unser Proviant geht zur Neige; der Farbprinz hat gerade einen bedeutenden Sieg errungen und wird nun zweifellos Tausende weitere Ketzer unter seinen Fahnen versammeln, und jetzt verlieren wir auch noch unseren größten Aktivposten.«
»Noch bin ich nicht tot«, erwiderte Gavin und grinste.
Corvan grinste kläglich zurück, aber er sah aus, als wäre ihm unwohl. »Keine Sorge, Lord Prisma, ich bin der Letzte, der dich abschreiben würde.« Und Gavin wusste, dass es die Wahrheit war. Corvan hatte Schande und Exil hingenommen, um Dazens Niederlage glaubwürdig erscheinen zu lassen. Er hatte die letzten sechzehn Jahre arm und unbekannt in einem Nest in der tiefsten Provinz verbracht und zugleich heimlich, still und leise ein Auge auf den Bastard des echten Gavin gehabt – Kip.
Noch so ein Problem.
Corvan senkte den Blick, erbleichte, als er sah, wie tief es hinunterging, und umklammerte das Geländer mit festem Griff. »Was wirst du tun?«
»Je mehr Zeit ich mit Wandlern verbringe, umso wahrscheinlicher ist es, dass jemand bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und wenn ich zu lange in der Chromeria bin, wird die Weiße mich bitten, die Farben ins Gleichgewicht zu bringen. Wenn Rot gegenüber Blau überwiegt, werde ich es vielleicht nicht erkennen, geschweige denn es ausbalancieren können. Sie werden mich meines Amtes entheben.«
»Also …«
»Also werde ich nach Azûlay gehen, um der Nuqaba einen Besuch abzustatten«, erklärte Gavin.
»Nun, das ist eine Möglichkeit, Eisenfaust davon abzuhalten, dich zu begleiten. Aber warum willst du sie denn sprechen?«
»Weil die Hauptstadt von Paria nicht nur über die größte Bibliothek der Welt verfügt – wo ich Nachforschungen anstellen kann, ohne dass das ganze Spektrum binnen einer Stunde weiß, was ich mir angesehen habe –, sondern die Parianer außerdem eine reiche mündliche Überlieferung am Leben erhalten, darunter auch vieles, was geheim ist, und einiges zweifellos Ketzerische.«
»Wonach suchst du?«
»Wenn ich die Kontrolle über Blau verloren habe, Corvan, bedeutet das, dass Blau außer Kontrolle ist.«
Corvan wirkte für einen Moment verwirrt, dann entsetzt. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich habe nie einen ernst zu nehmenden Gelehrten gelesen, der den Gottesbann für etwas anderes hielt als ein Schreckgespenst, das die Chromeria erfunden hat, um die Taten einiger der frühen Eiferer und der Luxoren zu rechtfertigen.«
Der Gottesbann. Corvan benutzte den alten Ptarsu-Ausdruck Bann ganz richtig. Das Wort hatte ursprünglich wahrscheinlich eingehegter oder heiliger Bezirk bedeutet, später auch Aufgebot oder etwas, das in einen solchen Bezirk »verbannt« wurde. Aber Lucidonius’ Parianer hatten dergleichen für Frevel gehalten. Sie hatten das Wort übernommen, als sie förmlich die ganze Welt übernommen hatten, so dass es jetzt auch in der Bedeutung »Fluch« gebraucht wurde.
»Und wenn sich die Gelehrten irren?«
Corvan schwieg lange Zeit. Dann erklärte er: »Du willst also an der Türschwelle der Nuqaba aufkreuzen und sagen: ›Als das Oberhaupt Eures Glaubens zeigt mir bitte Eure ketzerischen Texte und erzählt mir genau die Geschichten, die als todeswürdig zu verdammen gerade ich kraft meines Amtes der wahrscheinlichste Kandidat bin‹ – und dann erwarten, dass sie dir auch noch Folge leistet? Ja, ich schätze schon, das kann man durchaus einen Plan nennen. Aber keinen guten, wohlgemerkt.«
»Ich kann unglaublich charmant sein«, erwiderte Gavin.
Corvan lächelte, wandte sich jedoch ab. »Weißt du«, begann er, »was du gestern mit dem Meeresdämon gemacht hast, war … wirklich erstaunlich. Und was du in Garriston getan hast, war auch erstaunlich, nicht nur die Errichtung der Leuchtwassermauer. Gavin, diese Menschen werden dir bis ans Ende der Welt folgen. Sie werden jedem, dem sie begegnen, erzählen, was du getan hast. Wenn es irgendwann zu einem Kampf zwischen dir und dem Spektrum käme …«
»Das Spektrum hat bereits fügsamere Kandidaten in den Startlöchern, die das nächste Prisma werden könnten, Corvan. Wenn ich dem Spektrum jetzt trotze, werde ich genauso übel in der Klemme stecken wie Dazen vor siebzehn Jahren. Ich will nicht, dass die Welt das alles noch einmal durchmachen muss. Die Menschen mögen mich lieben, aber wenn sich all ihre Anführer gegen mich vereinen, werde ich nichts davon haben als den Tod meiner Freunde und
Weitere Kostenlose Bücher