Die Blendende Klinge
Monaten, dass du Dazen bist?« Nein. Sie würde sich einfach neben ihn setzen, dem Sonnenaufgang zusehen und dann sagen: »Ich weiß noch, wie wir uns hier zum ersten Mal geküsst haben.«
Der Gedanke, Gavin dadurch völlig durcheinanderzubringen, hatte etwas ungemein Befriedigendes.
Aber es lag noch viel vor ihnen. Viele der Lügen, die er ihr erzählt hatte, ergaben für sie nun einen Sinn, jedoch nicht alle, und zu wissen, warum jemand einen angelogen hat, ist etwas anderes, als es zu verstehen, und bei weitem etwas anderes, als es zu verzeihen.
Aber dennoch, sie wollte nun unbedingt ein neues Leben anfangen. Auch wenn sie noch immer Angst davor hatte. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Es war nicht so, dass sie ein Risiko einging …
Sie bog um die letzte Ecke und fand sich plötzlich auf ihrem Hintern sitzend auf dem Boden wieder. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass man ihr ins Gesicht geschlagen hatte. Und dann war eine ganze Horde von Männern um sie, und die Schläge kamen von allen Seiten.
Sie trat, sie wand sich, sie schrie, aber ihre Schwarzgardistenkünste halfen ihr wenig. Es waren ein Dutzend Männer, allesamt Riesen, und sie versperrten ihr jede Fluchtmöglichkeit. Ihre Geschwindigkeit half ihr nicht, wenn sie auf dem Boden lag. Ihre Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen half ihr nicht, wenn ihr die Waffen vom Leib gerissen wurden.
Ihre Wut war mit Beschämung und Angst unterlegt. Sie war eine Schwarzgardistin. Wie hatte sie sich bloß unvorbereitet überrumpeln lassen können? Wie konnte sie so voller Angst sein? Sie versuchte zu schlagen, versuchte zu treten, aber alle ihre Körperglieder wurden festgehalten. Sie versuchte zu zappeln. Ein Fuß traf ihre Niere. Schwarze Sterne explodierten vor einem weißen Himmel. Sie sollte jetzt keine Angst haben; die Männer sollten Angst vor ihr haben. Ein Gesicht beugte sich dicht zu ihr herab, sagte etwas, und sie ließ ihren Kopf nach vorne peitschen, brach ihm die Nase, ließ sein Blut über sie regnen. Sie verdrehte einen Arm, zerschmetterte einem Mann den Ellbogen. Dann prallte ihr Kopf gegen die Pflastersteine, ohne dass sie den Schlag überhaupt hätte kommen sehen. Und all ihre Empfindungen verließen sie, während ihr das Bewusstsein entglitt – und noch immer prasselten die Schläge erbarmungslos auf sie ein.
90
»Schwarzgardisten sterben. Der Tod ist unser Begleiter«, sagte Hauptmann Eisenfaust an die Frischlinge gewandt, die sich in einem ihrer kleinen Trainingsgebäude versammelt hatten. »Gestern ist eine von uns getötet worden. Lucia.«
Die verbliebenen zwanzig Frischlinge hatten die Nacht nach Lucias Tod freibekommen, aber ihnen war eingeschärft worden, dass sie gleich am nächsten Morgen in Formation hier anzutreten hätten, wenn sie nicht rausfliegen wollten. Alle waren gekommen.
»Lucia hatte keine große Chance, eine Schwarzgardistin zu werden.« Der Hauptmann machte eine Pause, damit sie seine Worte verdauen konnten. »Das ist nur zu wahr. Im brutalen Licht des Todes neigen andere dazu zu lügen. Andere lügen, da sie den Tod fürchten und Angst davor haben, dass andere die Wahrheit über sie sagen, wenn sie gestorben sind. Die Herausforderung besteht darin, so zu leben, dass die Wahrheit über uns nichts Peinliches ist. Lucia war keine große Kämpferin, aber sie war mutig und rechtschaffen, und sie hatte es nicht verdient, von einem Feigling mit einer Muskete ermordet zu werden. Wir werden ihn finden. Wir sind gerade auf der Suche nach ihm. Und wenn wir ihn finden, werden wir ihn töten. In der Zwischenzeit aber haben wir unsere Arbeit zu tun. Wir sind die Schwarze Garde. Wir haben immer etwas zu tun. Ausbilder?«
Ausbilder Fisk trat vor, aber Kip sah zu Kruxer hinüber. Das Gesicht des Jungen wirkte wie aus Stahl.
»Der Krieg wird euer Lehrmeister sein«, ergriff Ausbilder Fisk das Wort. »Wir ziehen in den Krieg. Wie einige von euch wissen dürften, hat das Spektrum entschieden, uns zur Verteidigung von Ru auszuschicken. Wir haben den Krieg bereits kommen sehen. Nun ist er da. Wir hatten eigentlich geplant, noch zwei Wochen Vorbereitungszeit zu haben, bevor wir die Auszubildenden aus eurem Kurs auswählen. Besonders jetzt, nachdem Lucia getötet wurde. Aber für Schwarzgardisten gibt es keinen Stillstand. Jedenfalls sollte es besser keinen geben. Die letzte Prüfungsrunde findet heute statt. Ich weiß, dass manche von euch sich von den gestrigen Kämpfen noch nicht erholt haben. Tut mir leid. Pech. Ihr
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