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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Anthony
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durch das Zimmer eilte. Ich sah zu, wie sie sich neben dem Koffer des Gastes niederkniete und langsam den Deckel öffnete. Ich hörte, wie sie verzückt nach Luft schnappte, als sie den wunderbaren Schatz entdeckte, der darin verborgen lag.
    Sie hätte diesen Deckel niemals öffnen dürfen.
    Sie wusste, dass sie nicht das Recht hatte, das Hab und Gut eines Gastes zu durchsuchen. Und im Laufe der Jahre waren viele Gäste hier im Château gewesen. Für gewöhnlich blieben die Gäste, die aus Bordeaux kamen oder auf dem Weg dorthin waren, für eine Nacht, manchmal auch für eine ganze Woche. Zahllose Adelige mit glitzernden Mänteln und schimmernden Kleidern.
    Doch dieser Gast war anders.
    Er war auf alle Fälle ein Adeliger. Ein Graf. Er war das schönste Wesen, das das kleine Mädchen jemals zu Gesicht bekommen hatte. Seine glänzenden schwarzen Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und er trug glitzernde Ringe an den Fingern. Seine Schuhe mit den hohen Absätzen waren mit blauen Rosetten verziert, und sein Hut war sowohl größer als auch weicher als der, den ihr Vetter Alexandre trug. Der Mann wirkte sehr dunkel und sehr groß.
    Er hatte ein- oder zweimal bemerkt, dass das Mädchen ihn gemustert hatte, während er sich in der Eingangshalle mit ihrem Papa unterhalten hatte, doch er hatte sie sofort ignoriert. Und dann hatte er ihrem Papa Neuigkeiten vom königlichen Hof übermittelt. Sie hatte sich nach der Königin erkundigt, doch der Mann hatte ihr mitgeteilt, dass Frauen wohl kaum von Bedeutung waren, und ihr Papa hatte ihr befohlen, ruhig zu sein. Keiner der beiden hatte bemerkt, wie sie sich schließlich aus dem Raum geschlichen hatte. Das war der Grund gewesen, warum sie überhaupt in das Zimmer des Gastes eingedrungen war. Sie war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Und ihr einziger Wunsch war es, eine Frau wie ihre Maman zu werden.
    Sie war sich ziemlich sicher, dass es der Gast nicht gutgeheißen hätte, dass sie seine Sachen durchsuchte, und genau deshalb tat sie es.
    Doch nun hielt sie vor dem Koffer inne. Ihre Finger hielten den Deckel fest, während sie die Spitze anstarrte.
    Der Bischof hatte Armstulpen dieser Art getragen, als er am Ostersonntag die Messe gelesen hatte. Sie hatten aus den Ärmeln seines Messgewandes herausgeragt wie Schaum aus einem Glas frischer Milch. Sie streckte eine Hand danach aus … Sollte sie einen Schritt weitergehen?
    Ich sah zu, wie sie sich gedankenverloren auf die Lippe biss.
    In diesem unwirklichen Land der Träume, wo Zeit und Raum ineinanderfließen, war ich überall und nirgendwo zugleich. Ich sah ihren Hinterkopf. Sah, wie die goldenen Locken bebten, als sie in den Koffer griff. Zugleich sah ich jedoch auch das Verlangen in ihren glänzenden Augen, während ihre Hand über der Spitze schwebte.
    Die zwei Stulpen lagen in einer Mulde, die ein Paar Handschuhe formten. Als sie eine Hand darunterschob, roch sie das Parfum. Jasmin, Orangenblüten und Nelken. Ein Geruch, der so süßlich war, dass sie beinahe würgen musste.
    Vielleicht würde sie der Geruch von ihrem Vorhaben abbringen … aber nein. Ich spürte, wie die Tränen der Frustration in meine Augen stiegen.
    Das kleine Mädchen hustete kaum. Sie nahm einen tiefen Atemzug durch den Mund und wandte sich wieder der Spitze zu. Der Geruch hatte sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten können. Doch obwohl sie die Stulpen berühren wollte, obwohl sie von einem beinahe unwiderstehlichen Verlangen durchströmt wurde, tat sie es nicht. Zumindest noch nicht. Doch schon bald würde sich das Unvermeidliche in meinem Traum abzeichnen. Ich sah zu, wie mein jüngeres Ich noch einmal die Hand in Richtung des Koffers ausstreckte.
    Ich versuchte, ihr etwas zuzurufen. Ich versuchte, das kleine Mädchen davon abzuhalten. Sie dazu zu bringen, sich zumindest umzudrehen und mir einen Moment lang zuzuhören, damit ich sie davon überzeugen konnte, es nicht zu tun. Doch ich konnte sie nicht aufhalten. Ich konnte sie nicht aufhalten, denn das, was sie sah, war so … wunderschön. So reizvoll. Eine Sehnsucht, den Stoff in den Händen zu halten, einen Moment lang ihrer Mutter wieder nahe zu sein, ergriff von ihr Besitz.
    Das darfst du nicht tun! Selbst in meinem Traum spürte ich die alte, mir wohlbekannte Last der Verzweiflung. Ich spürte die Trauer über den Verlust all der schönen Dinge, die wir nun nicht mehr besaßen: die Wandteppiche und die türkischen Webarbeiten, die Sammlung emaillierter Schatullen und die mit Diamanten

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