Die Blueten der Freiheit
zu, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Dann beugte sie sich nach vorne und holte die Stulpe aus der Dunkelheit.
Sie war … beinahe sauber. Abgesehen von einer Stelle am Rand, die direkt mit der Asche in Berührung gekommen war. Hier war sie verschmutzt und das Schneckenmuster tiefschwarz gefärbt.
Ich sah zu, wie das Kinn des kleinen Mädchens zu zittern begann und sich ihr Gesicht verzog, als sie an ihre Maman dachte, die sie nun weder trösten noch ihren Fehler wiedergutmachen konnte. Ich erkannte auch den Moment, als ihr bewusst wurde, dass es keinen Sinn hatte, nun in Tränen auszubrechen. Sie hatte etwas an sich genommen, das ihr nicht gehörte. Sie hatte einen Raum betreten, den sie nicht hätte betreten dürfen. Selbst ihre geliebte Maman hätte sie dafür gescholten. Sie wusste, dass ihr niemand auf die Schliche kommen durfte. Sie musste die Folgen ihrer sündhaften Taten verstecken. Wenn ihr das gelang, dann würde niemand je davon erfahren.
Ich spürte ihre Schuldgefühle. Ich sah ihre Angst. Wie konnte sie die Spitze wieder sauber bekommen?
Sie versuchte, sie mit dem Saum ihres Rockes abzureiben. Doch das führte bloß dazu, dass der dunkle Ruß nur noch mehr verschmiert wurde. Vielleicht … wenn sie den verschmutzten Teil der Stulpe abschnitt, dann würde niemand je davon erfahren.
Nein, nein und nochmals nein!
Sie legte die Stulpen wieder in den Koffer und schloss verstohlen den Deckel, bevor sie den Raum verließ. Doch sie würde wiederkommen. Sie würde ihre Schere aus ihrem Nähkoffer holen, sie in den Falten ihres Rockes verstecken und dann wieder in das Zimmer des Gastes zurückkehren.
Gab es ein anderes mögliches Ende für diesen Traum?
Und da war sie auch schon. Da war sie und tapste durch das Zimmer auf den Koffer zu. Sie hob den Deckel. Sie nahm die Spitze heraus. Sie holte die Schere hervor.
Tu’s nicht!
Sie legte ein Ende der Spitze zwischen die scharfen, kalten, schweren Scherenblätter.
Nein!
Sie biss sich mit den Zähnen auf die Unterlippe. Vorsichtig, ganz vorsichtig schnitt sie das Schneckenmuster am Saum durch und trennte so den verschmutzten Teil ab. Sie versteckte das Beweisstück in ihrem Schuh und verbarg es unter ihrer Fußsohle. Dann legte sie den Rest der Spitze zurück in den Koffer. Und als sie ein letztes Mal den Deckel schloss, war sie sich ganz sicher, dass niemand jemals von ihrer Sünde erfahren würde.
Damals wusste sie noch nichts von dem, was ich heute weiß.
Sie wusste nicht, wie schnell sich das Leben zum Schlechten wenden kann. Wie ein einzelner loser Faden alles um sich herum auflösen kann.
Aber das war nicht das Schlimmste an diesem Traum. Das Schlimmste daran war, dass ich aufwachte und genau dasselbe wollte, was ich damals gewollt hatte. Ich wachte auf und wollte meine Maman wiederhaben. Ich wachte auf und wollte diese Spitze noch einmal berühren. Und hätte ich die Möglichkeit gehabt, alles noch einmal zu erleben, ich hätte alles wieder genauso gemacht. Das Schlimmste war die Gewissheit, dass ich nichts anderes hätte tun können, als das, was ich ohnehin getan hatte.
Den Grafen von Montreau kümmerte es nicht, dass es ein Unfall gewesen war.
»Sie hat es nicht absichtlich getan.«
Ich klammerte mich an die Hand meines Vetters Alexandre, während Papa zwischen den Grafen und mich trat.
»Es ist mir egal, ob sie den Stoff verzaubern und ihn um das Dreifache verlängern wollte!«, brüllte er, während er sich an Papa vorbeidrängte und mich anstarrte.
»Sie ist doch bloß ein Kind. Es war ihr nicht bewusst, was sie da tat.«
»Das, was sie getan hat, kostet Euch bloß zweitausend Livre.«
»Zweitausend! Damit könnte ich ein zweites Anwesen kaufen!«
»Genauso viel haben mich diese Armstulpen damals gekostet. Aber …« Der Blick, mit dem er Papa bedachte, ließ ihn älter wirken, als er tatsächlich war. »Vielleicht sollte ich mehr von Euch verlangen. Als ich sie erwarb, bekam man diese Spitze aus Flandern noch überall. Nun ist der Erwerb von Spitze verboten. Dieselbe Länge kostet heute doppelt so viel. Wenn man es überhaupt wagt, Spitze zu kaufen.«
Ich hielt den Atem an. Noch nie hatte es jemand gewagt, so mit Papa zu sprechen.
»Ich habe keine zweitausend Livre.«
»Ich möchte auch keine zweitausend Livre. Ich möchte viertausend.«
Alexandre zog mich in Richtung Tür, doch ich wollte nicht gehen. »Komm.«
»Non!«
Alexandre bückte sich und hob mich hoch. Das hatte er noch nie getan. Er berührte mich nur
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