Die Blueten der Freiheit
einen Blick auf den Leutnant. Er drückte seine Fäuste zusammen und riss sie dann ruckartig auseinander, als würde er etwas auseinanderbrechen wollen.
Ah! Jetzt verstand ich. Ich legte das eine Ende der Krücke auf den Boden und trat fest mit dem Fuß dagegen. Sie zersplitterte, doch sie brach nicht ganz auseinander. Also verpasste ich ihr noch einen Tritt.
»Meine Krücke!« Der alte Mann hatte sich einige Schritte von der Wand fortbewegt und ging auf mich los. Er versuchte, mich von der Krücke fortzuziehen, doch er schaffte es nicht.
Ich hob die Krücke aus dem Schlamm und untersuchte die beiden abgebrochenen Enden. Nichts als Splitter. Dann betrachtete ich das Ende, das unter den Arm geklemmt wurde. Auch nichts. Es war bloß eine Krücke.
»Was habt Ihr getan?«
»Es tut mir leid.«
»Und was soll ich jetzt tun?« Er warf einen Blick hinunter auf seinen Fuß, der in einen Lumpen gewickelt war. Es war ein sehr schmutziger, sehr blutiger, sehr löchriger alter Lumpen.
»Ich weiß es nicht. Es tut mir sehr leid … Ich …«
»Wie soll ich jetzt gehen?«
Ich wich vor dem Mann zurück, entschuldigte mich noch einmal und machte mich dann auf die Suche nach dem Leutnant. Ich fand ihn schließlich auf der anderen Seite der Warteschlange. Es sah mich an und lachte.
»Lass mich dir einen Rat geben, Denis Boulanger.« Er hakte sich bei mir unter. »Komm mit. Ich verrate dir einen Trick.« Als wir an der Schlange vorbei zu deren Anfang gingen, verstummten die Menschen plötzlich. Er führte mich zu einer buckligen alten Frau, die sich auf einen Stock stützte.
Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Ein wirklich schlechtes Gefühl im Magen.
»Du musst bloß …« Er griff ohne Vorwarnung nach dem Stock. Die Frau riss schreiend die Hände in die Höhe und fiel mit dem Gesicht voran in den Schlamm. »Siehst du? Das ist der Trick. Die Schmuggler fallen nicht um. Sie tun bloß so, als wären sie verkrüppelt oder lahm. Sie können ihr Gleichgewicht aber noch halten. Diejenigen, die fallen … Nun, das sind die Falschen. Dieses alte Weib hier ist keine von denen, nach denen wir suchen.«
»Aber …«
»So macht man das.«
Die Frau lag strampelnd im Schlamm. Je mehr sie versuchte, sich zu erheben, desto mehr schien sie im Schmutz zu versinken. Die anderen lachten sie aus.
»Wenn das die Art ist, wie wir unsere Arbeit erledigen, dann möchte ich es nicht mehr länger tun.«
»Sei kein Narr.« Er stieg bereits die Treppe zu seiner Baracke hoch. »Du hast etwas zu erledigen! Du musst Spitze konfiszieren. Und außerdem … Es geht doch bloß um den Spaß.«
Ich hätte gerne die Hand nach der alten Frau ausgestreckt, doch ich fühlte mich schuldig. Und dann pfiff mich jemand aus der Schlange aus. Zumindest glaubte ich, etwas gehört zu haben. Verschämt lief ich hinter dem Leutnant her. Mein Patronengürtel schlug mir gegen die Seite, als ich die Treppe hocheilte. Ich dachte an die armen Kinder. An den Mann, den ich ohne seine Krücke zurückgelassen hatte. Und an die alte Frau, die nichts hatte, außer ihren schmutzverkrusteten Kleidern, die sie an die Begegnung mit mir erinnerten. Schließlich holte ich den Leutnant ein. »Ich erwarte meinen Einsatzbefehl.«
»Deinen Einsatzbefehl?«
Ich streckte die Schultern durch. » Oui, Leutnant.« Wenn es meine Aufgabe war, die schuldlosen Bürger Frankreichs – und Flanderns – zu quälen, dann wollte ich sie nicht mehr länger ausführen. Ich würde lieber … etwas anderes tun.
»Nun gut.« Der Leutnant trat vor mir in die Baracke und kam mit meinem Einsatzbefehl in der Hand wieder zurück. Er drückte ihn mir so hart gegen die Brust, dass ich beinahe von der Treppe gestolpert wäre, als ich danach griff. »Weißt du, was dein Problem ist?«
» Non, Leutnant.«
»Du besitzt keine Vorstellungskraft.«
Keine Vorstellungskraft. Ich salutierte und drehte mich um, um zu gehen.
»Du bekommst noch eine letzte Chance, Denis Boulanger. Das ist deine letzte Chance, ein richtiger Soldat zu werden. Vergeude sie nicht.«
Ich ließ den Leutnant stehen und stieg die Treppe hinunter. Ich hielt den Einsatzbefehl in die Höhe, um ihn zu lesen.
Signy-sur-Vaux. Ich sollte die Schießpulverfabrik bewachen.
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg, und mein Herz schien mir bis zum Hals zu schlagen. Ich wurde nach Signy-sur-Vaux beordert? Nur sehr wenige Menschen wussten, dass es diesen Ort überhaupt gab. Und noch weniger wussten, wo er sich befand, so versteckt
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